Spring über deinen Schatten

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"Ruby, ich muss dir etwas wichtiges erzählen!", ruft Lukas begeistert. Seine Tochter vermutet, dass ihr Vater keine besonders guten Nachrichten hat und ist deswegen nicht wirklich begeistert. "Was ist denn los? ", fragt sie. "Stell dir vor, heute beim Einkaufen habe ich einen Aushang gesehen. In einer großen Firma werden noch dringend Elektriker gesucht und da habe ich mich gleich gemeldet. Sie meinten, dass ich direkt zum Vorstellungsgespräch kommen kann, also habe ich das gemacht. Ich habe dem Chef meine Zeugnisse gezeigt und er war total begeistert. Er hat mir gesagt, dass ich den Job bekomme und am Montag soll ich anfangen.", sprudelt es aus Lukas heraus. "Das ist ja super. Also verdienst du mehr als bei deinem letzten Job?", fragt Ruby, die sich nach einer Wohnung sehnt, die sich nicht im größten Ghetto von Köln befindet. "Pro Monat sind es hundert Euro mehr. Damit können wir uns natürlich erstmal keine neue Wohnung leisten, aber wir können ein bisschen sparen und uns vielleicht in ein paar Monaten eine neue Wohnung mieten.", antwortet Ruby's Vater. Die siebzehnjährige ist natürlich enttäuscht, aber vor Lukas möchte sie sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen. Immerhin ist es für ihn auch nicht so leicht. "Das ist doch schon mal ein Anfang. Vielleicht können wir auch irgendwann wieder nach Hamburg ziehen.", entgegnet Ruby begeistert. Lukas möchte seiner Tochter nicht den Wind aus den Segeln nehmen, denn er weiß ganz genau, wie es sehr Ruby Hamburg liebt. Er denkt aber nicht, dass er jemals wieder in diese Stadt zurückkehren wird, da Hamburg relativ teuer ist und er sich auch nicht unbedingt in der gleichen Stadt aufhalten will, wie seine Exfrau. Aber Ruby hat den Blick ihres Vaters bemerkt. Die beiden wissen immer, was der jeweils andere denkt und Ruby weiß genau, dass ihr Vater so weit wie möglich weg sein will. Weit weg von Ruby's Mutter und weit weg von seiner Familie, mit der er schon lange keinen Kontakt mehr hat.

Am Abend erzählt Ruby ihrer Freundin, dass Lukas einen neuen Job hat. Ella freut sich sehr über diese tolle Nachricht. "Ich würde schon gerne irgendwann wieder nach Hamburg ziehen.", sagt Ruby nachdenklich. 'Wir können in den Ferien ja mal wieder dort hinfahren.', schlägt Ella vor. "Ich will für immer in Hamburg bleiben. Aber ein Urlaub klingt ja schon mal ganz gut.", entgegnet die siebzehnjährige. Die beiden schauen mehrere Horrorfilme hintereinander und nach einer Weile knistert die Stimmung zwischen Ruby und Ella. Sie schauen sich gegenseitig tief in die Augen und Ruby beginnt, ihre Freundin gnadenlos zu kitzeln. Ella japst und erschreckt sich, weil sie wieder ein Geräusch gemacht hat. "Hey, das ist ganz normal. Du musst dich nicht erschrecken.", beruhigt Ruby ihre Freundin. Jetzt beginnt Ella, ihre Freundin zu küssen. "Das war aber nicht so abgesprochen!", ruft Ruby und lächelt sie an. Ella lacht leise und es ist ein ehrliches Lachen. "Weißt du was, dein Lachen ist wunderschön. Im Gegensatz zu den meisten anderen merkt man bei dir, wie ehrlich du bist. Dein Lachen verrät dich. Wenn du lachst, merkt man, wie glücklich du gerade bist und auf mich wirkst du gerade ziemlich glücklich.", flüstert Ruby. 'Ich bin tatsächlich glücklich. Bei dir kann ich so sein, wie ich wirklich bin. Ich fühle mich so frei, wie schon lange nicht mehr.', entgegnet Ella und lächelt ihre Freundin an. Im nächsten Moment fällt sie über Ruby und kitzelt sie weiter. Ella's Freundin ist völlig außer Atem und rennt in die Küche. "Du bist echt fies. Ich kann wirklich nicht mehr. Aber ich würde gerne etwas essen. Hast du auch Hunger?", fragt Ruby. Die siebzehnjährige nickt und ihre Freundin bestellt Pizza. 'Welche Pizza hast du denn bestellt?', fragt Ella, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kennt. "Pizza quattro formaggi.", antwortet Ruby, die ihre Freundin mittlerweile mit ihrer Vorliebe für Käse angesteckt hat.

Nach dem Essen fühlt sich Ella in der Lage, endlich mal zu sprechen. Als Ruby im Bad ist, versucht die siebzehnjährige, einige Buchstaben auszusprechen, um zu sehen ob sie es noch kann. "Fuck it.", flüstert sie mit gebrochener Stimme. Irgendwie freut sie sich, weil sie noch sprechen kann, andererseits wird ihr bewusst, dass sie deutlich mehr Probleme haben wird, wenn sie jetzt wieder mit dem Sprechen anfängt. Als Ruby in ihr Zimmer zurückkehrt, tut Ella so, als ob nichts gewesen wäre. Nach einem weiteren Horrorfilm kuscheln die beiden Freundinnen. "Ich liebe dich so sehr.", flüstert Ruby und spielt mit den Haarstränen ihrer Freundin. "Ich.. Ich.. Ich liebe dich auch.", stottert Ella nervös. Ruby schaut ihre Freundin geschockt an. "Hast du.. Hast du gerade gesprochen?", fragt die siebzehnjährige schockiert. Ella nickt und wird knallrot. "Das ist ja super! Aber warum redest du auf einmal mit mir?", fragt Ruby. "Ich.. Ich.. Ich.. ich wollte dir einfach nur sagen wie sehr ich dich liebe. Als du im Bad warst, habe ich versucht zu sprechen und da habe ich gemerkt, dass ich es noch kann.", sprudelt es aus der siebzehnjährigen heraus. "Oh Ella, du bist so süß. Ich freue mich wahnsinnig, dass du mit mir sprichst. Und vorher hast du mit niemandem gesprochen? Nicht einmal mit Finn?", fragt ihre Freundin. Ella schüttelt schüchtern den Kopf und Ruby küsst sie. Nach dem Kuss lächeln sich die beiden Freundinnen an. "Du weißt gar nicht, was für ein großes Geschenk du mir damit gemacht hast.", flüstert Ruby. "Wirklich?", fragt Ella verwirrt. "Natürlich liebe ich dich auch, ohne dass du mit mir sprichst, aber es ist so viel einfacher, wenn du redest. Außerdem hast du so eine schöne Stimme.", antwortet ihre Freundin. Ella schaut beschämt in die Ecke. "Hey, du musst dich doch nicht schämen. Du bist so süß.", flüstert Ruby und lacht. Ella lacht auch und küsst ihre Freundin.

Als die siebzehnjährige zuhause angekommen ist, läuft ihr Finn über den Weg. "Hey Schwesterherz, ist alles okay bei dir?", fragt er und lächelt seine jüngere Schwester an. Sie zieht ihren Bruder am Shirt in ihr Zimmer. "Was ist los?", fragt er verwirrt. Ella schließt die Tür ab und vergewissert sich, dass niemand ihnen zuhört. "Jetzt kipp nicht aus den Latschen, aber ich angefangen, wieder zu sprechen.", flüstert sie. Der neunzehnjährige starrt seine Schwester fassungslos an. Jetzt fehlen ihm die Worte. Zum ersten Mal weiß er nicht, was er sagen soll. "Aber.. Aber.. Warum fängst du jetzt an zu sprechen? Liegt das etwa an deiner Freundin?", fragt er gespannt. "Wenn du es genau wissen willst, ja. Ich habe wegen Ruby wieder angefangen zu sprechen, weil und sie mir so viel Mut gemacht hat und weil sie die einzige ist, die meine Dämonen vertreiben konnte.", flüstert Ella. "Das ist ja fantastisch! Ich wusste gar nicht, dass Liebe so etwas schafft.", bemerkt er. Erst jetzt bemerkt Ella, dass ihr Bruder wahrscheinlich wieder gekifft hat. "Aber warte mal, wenn du jetzt redest, redest du dann eigentlich mit allen oder redest du nur mit Ruby und mir?", fragt der neunzehnjährige nachdenklich. "Genau darüber muss ich mir noch Gedanken machen. Einerseits will ich schon mit allen anderen sprechen, besonders mit Marie und Mama, aber dann wird Mama mich zwingen, mit den Idioten in der Schule auch zu sprechen. Und wir beide wissen ganz genau, dass ich dann nur wieder die Zielscheibe für diese absoluten Vollidioten bin.", entgegnet Ella. "Natürlich weiß ich das. Aber wenn du weiterhin schweigst, werden Mama oder Marie irgendwann mitbekommen, dass du mit mir redest und dann wirst du wahrscheinlich die Hölle auf Erden erleben. Mama wird tödlich beleidigt sein und dann wird sie dich auch zwingen, mit den Vollidioten zu sprechen.", entgegnet Finn. "Vielleicht muss ich einfach nur im richtigen Moment anfangen, wieder zu sprechen.", überlegt Ella und ihr Bruder stimmt ihr zu.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt