Sind wir jetzt erwachsen?

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In Berlin bricht für Aleika das zweite Mal innerhalb von wenigen Tagen eine Welt zusammen. Die einundzwanzigjährige ist wieder durch die Prüfung gefallen. Diesmal hatte sie während der Klausur allerdings keine Panikattacke. Sie hat wirklich gedacht, dass sie es schafft, weil sie sehr gut vorbereitet war und eigentlich hatte sie auch kein schlechtes Gefühl. Und wieder muss sie eine Mail an ihre Dozentin schreiben. Dieses Mal erzählt sie vom Tod ihres Vaters, der sie so traumatisiert hat. Die einundzwanzigjährige hat ein schlechtes Gewissen, denn mittlerweile hat sie den Tod ihres Vaters eigentlich verarbeitet und jetzt benutzt sie ihn als Ausrede, weil sie durch die Prüfung gefallen ist. Die Dozentin schreibt ihr eine ganz liebe Mail zurück, aber was das erneute durchfallen für das Stipendium bedeutet, kann sie auch nicht sagen. Momentan sieht es so aus, als müsste Aleika arbeiten und dann ihr Studium selbst finanzieren. Die einundzwanzigjährige nimmt neben ihrem Job im Diner noch zwei weitere Jobs an. Sie schuftet täglich von acht Uhr bis zweiundzwanzig Uhr. Zwischen den drei Jobs hat sie jeweils eine Stunde Pause. "Ist das eigentlich legal?", fragt Kim ungläubig. "Ja, ich darf so lange arbeiten, weil es drei verschiedene Jobs sind und es sind Minijobs.", erklärt Aleika. "Das ist doch nicht fair. Nur weil du durch die Prüfung gefallen bist, musst du jetzt so schuften. Andere fallen bei der Führerscheinprüfung dreimal durch und da passiert nichts, sie dürfen trotzdem noch Auto fahren.", entgegnet Kim wütend. "So ist das Leben. Ich habe keine richtige Ausbildung, also kann ich mein Leben lang nur diese verdammten Minijobs machen. Das Kunststudium hätte eine echte Chance sein können. Ich verstehe nicht, warum ich schon wieder durchgefallen bin.", erwidert die einundzwanzigjährige frustriert.

Ella vermisst ihre Freundin sehr. Das Wochenende war wieder einmal viel zu kurz. "Wie soll das eigentlich mit euch beiden weitergehen? Ich meine, eine Fernbeziehung haltet ihr doch auf Dauer nicht aus.", bemerkt Benni. "Ihr vermisst euch, das sieht sogar ein Blinder.", ergänzt Mia. "Das weiß ich, aber ich wohne nun mal in Köln und sie wohnt in Berlin. Ich kann nicht schon wieder die Schule wechseln und sie kann nicht hierher ziehen.", entgegnet Ella. "Warum eigentlich nicht? Du könntest sehr wohl die Schule wechseln, du willst nur nicht. Du hast Angst davor, noch mal komplett von vorne anzufangen. Und da Aleika sowieso durch die Prüfung gefallen ist und ihr Stipendium verloren hat, könnte sie auch einfach hierher ziehen. Ihr macht es euch nur unnötig schwer. Du könntest mit ihr zusammen wohnen, aber ihr steht euch dabei selbst im Weg, weil ihr beide Angst habt.", stellt Mia fest. Ella muss zugeben, dass sie nicht ganz unrecht hat. Am Abend kreisen ihre Gedanken nur noch um einen möglichen Umzug nach Berlin. Aber wie soll sie die Miete bezahlen? Würde Kim überhaupt wollen, dass sie zu dritt in der WG wohnen? Wahrscheinlich könnte sie auch gar nicht so schnell die Schule wechseln und selbst wenn, dann wäre sie wieder die Neue. Darauf hat die achtzehnjährige wirklich keine Lust. Aber dann könnte sie Aleika jeden Tag sehen. Sie müssten sich nicht mehr vermissen und auf zwei Wochenenden im Monat beschränken, weil die Tickets so verdammt teuer sind. Ella liegt stundenlang wach. Soll sie nach Berlin ziehen oder soll sie lieber hierbleiben? Hier sind ihre Freunde, aber hier hat sie auch ziemlich schlechte Zeiten erlebt. Eigentlich ist es an der Zeit, dass alles hinter sich zu lassen, aber was ist mit Mia und Benni? "Natürlich gehst du nach Berlin, Benni und ich kommen dich alle zwei Wochen besuchen.", verspricht Mia, als Ella von ihren Zweifeln erzählt. "Ich erzähle ihr morgen direkt davon. Dann müssen wir mit Kim abklären, ob ich in die WG ziehen kann und irgendwie brauche ich ja auch Geld für die Miete.", stellt die achtzehnjährige fest.

In Berlin bekommt Aleika eine Nachricht, von der sie nicht so recht weiß, was sie davon halten soll. "Freu dich doch, du kannst weiterhin studieren und du musst nichts dafür bezahlen, weil du das Stipendium doch nicht verloren hast.", freut sich Kim für ihre beste Freundin. Die einundzwanzigjährige kann sich aber nicht wirklich freuen. "Aber ich muss dann umziehen, nach Leipzig, zu den Nazis.", gibt sie zu bedenken. "Aber in Leipzig gibt es nicht nur Nazis. Da gibt es vielleicht auch ein paar ganz nette Menschen. Außerdem kannst du immer zu mir nach Berlin kommen. Komm schon, du musst deine Chance jetzt auch nutzen. Sonst bist du irgendwann alt, hast immer noch keinen richtigen Job und bist todunglücklich.", erklärt Kim. "Aber ich habe doch noch gar nicht mit Ella darüber gesprochen.", erwidert Aleika. "Dann ruf sie an. Jetzt, sofort.", fordert die achtzehnjährige. Widerwillig nimmt die einundzwanzigjährige ihr Handy in die Hand und ruft ihre Freundin an. "Das ist ja super! Natürlich gehst du nach Leipzig, um dort weiter zu studieren!", ruft Ella begeistert. "Bist du dir da wirklich sicher?", fragt Aleika, die immer noch nicht wirklich von der Idee überzeugt ist. "Ja klar, diese Chance musst du unbedingt nutzen. Das Leben hat manchmal echt fiese Überraschungen für einen parat, das weiß ich nur zu gut und ich glaube, du weißt das auch. Gerade deswegen solltest du glücklich sein, dass du diese Chance bekommen hast.", erklärt die achtzehnjährige. "Würdest du mich auch in Leipzig besuchen kommen?", fragt die einundzwanzigjährige unsicher. "Für dich würde ich überall hinfahren, sogar bis ans Ende der Welt. Okay, das klang jetzt wirklich kitschig, aber es ist so. Nutz bitte deine Chance, mach dir um mich keine Gedanken.", bestärkt Ella ihre Freundin.

"Bei wem gibt es etwas Neues?", fragt Dana beim Abendessen. "Ich gehöre jetzt zu der beliebten Clique in der Schule. Monatelang habe ich auf nichts anderes hin gearbeitet.", erzählt Marie. "Ernsthaft? Es kommt auf andere Dinge an. Du musst in der Schule nicht unbedingt beliebt sein, das ist doch voll langweilig.", entgegnet Finn. "Aber irgendwann werde ich auf alle coolen Partys eingeladen und die unbeliebten Leute nicht.", argumentiert die dreizehnjährige. "Weißt du was, die besten Partys schmeißen die unbeliebten Leute. Dort gibt es keinen Zwang, keinen Druck und auch keine beliebten Zicken.", entgegnet der zwanzigjährige. "Gibt es sonst etwas Neues?", fragt Dana, die von den Aussagen ihrer jüngsten Tochter etwas schockiert ist. "Aleika kann in Leipzig studieren. Sie hat das Stipendium doch nicht verloren. Aber in Berlin kann sie nicht weiter studieren, weil sie zweimal durch die Prüfung gefallen ist. In Leipzig ist das Niveau etwas niedriger und da könnte sie das Semester wiederholen. Ich habe ihr gesagt, dass sie ihre Chance nutzen soll. Stellt euch vor, sie wollte das Angebot ablehnen.", erzählt Ella. "Das freut mich für sie. Es wäre wirklich dämlich, das Angebot abzulehnen.", erwidert Dana. "Ich muss euch etwas sagen.", flüstert Finn. Ella hat natürlich gemerkt, dass ihrem Bruder etwas auf der Seele liegt. "Was ist denn los?", fragt Dana. "In einem Monat habe ich das Abi und ich weiß, dass ich danach gerne studieren möchte. Ich will Rechtsanwalt werden und die beste Uni dafür ist nicht gerade in der Nähe.", sagt er kleinlaut. "Und wo willst du Jura studieren?", fragt Marie. "Ich werde nach Chemnitz ziehen. Macht jetzt aber bitte keinen Aufstand.", antwortet der zwanzigjährige. "Nach Chemnitz? Warum willst du denn so weit weg gehen?", fragt Dana, die schon ein bisschen traurig ist. "Weil das die beste Uni ist. Ich will auch nicht unbedingt dorthin, immerhin wählen da ziemlich viele die AfD.", entgegnet Finn, der früher in der linken Szene unterwegs war. Dana muss das Ganze erst einmal verarbeiten. "Können wir dich dann in den Ferien besuchen?", fragt Marie. Der zwanzigjährige nickt. "Also ich freue mich für dich.", sagt die dreizehnjährige.

"Jetzt mal ernsthaft. Du willst wirklich in Chemnitz studieren?", fragt Ella ihren Bruder, während sie einen Joint im Zimmer von Finn rauchen. "Ich weiß, es ist irgendwie ein bisschen komisch, dass ich Rechtsanwalt werden will, obwohl ich Gras rauche. Aber ich bin eine ganz schöne Labertasche und ich denke, dass ich meine Mandanten vor Gericht raushauen kann, wenn ich den Richter und die Staatsanwälte einfach zutexte. Wer weiß, vielleicht bin ich im Studium auch so gut, dass ich meine Mandanten mit knallharten Fakten raushauen kann. So oder so, ich will unbedingt Jura studieren.", erklärt der zwanzigjährige. "Das stimmt, du könntest den Richter genauso gut zu Tode quatschen.", entgegnet Ella. "Und ich kann dich hier wirklich alleine lassen?", fragt er. "Natürlich kannst du das. Ich bin jetzt erwachsen. Und wenn ich dich in Chemnitz besuche, kann ich ja eigentlich auch gleich zu Aleika fahren.", überlegt die achtzehnjährige. "Das stimmt. Du kommst mich aber nicht nur besuchen, um deine Freundin zu sehen, dass das mal klar ist. Immerhin will ich auch noch Zeit mit meiner Schwester verbringen.", stellt Finn klar. "Natürlich, du Idiot.", bestätigt Ella und boxt ihrem Bruder auf die Schulter.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt