Am nächsten Wochenende findet bei der Familie von Ella eine Grillparty statt. Die mittlerweile achtzehnjährige hat mit ihrer Vergangenheit soweit abgeschlossen, dass sie ihren Geburtstag jetzt feiern möchte. Außerdem möchte sie diesen Tag in positiver Erinnerung behalten, denn immerhin ist es auch der Geburtstag von ihrem großen Bruder Finn. Der zwanzigjährige soll einen schönen Tag haben und Ella will ihm diesen Tag auf keinen Fall kaputt machen, wie sie es die letzten Jahre getan hat. "Hat hier jemand eine fette Party bestellt?", ruft Benni und marschiert vollbepackt in den Garten. Mia folgt ihm mit riesigen Luftballons. "Leute, nur weil wir die letzten Jahre keinen Geburtstag von uns gefeiert haben, heißt das doch nicht, dass ihr so übertreiben müsst.", sagt Ella, die ein bisschen geschockt ist. "Übertrieben wäre es nur, wenn wir dir eine riesige Party mit Hüpfburg und Alpakas geschenkt hätten. Das hatte ich tatsächlich vor, aber Benni war dagegen. Er hat gemeint, dass du dann total überfordert wärst.", entgegnet Mia. Eine Weile später ist die Party in vollem Gange. Ella genießt es, dass sie ihre liebsten Menschen um sich hat. Trotzdem ist sie ein bisschen traurig, weil ihre Freundin nicht dabei sein kann. "Hey, das ist dein Geburtstag, da solltest du nicht traurig sein.", flüstert Finn, der sofort merkt, das es seiner Schwester nicht so gut geht, wie es scheint. "Es wäre einfach schön, wenn Aleika dabei wäre.", entgegnet sie leise. "Vielleicht gefällt dir wenigstens unsere Überraschung.", mischt sich Benni ein. Aber die achtzehnjährige wirkt nicht besonders überzeugt.
Zur gleichen Zeit kommt ein ICE aus Berlin am Kölner Hauptbahnhof an. Mia steht mit einem riesigen Schild am Gleis. Auf dem Schild steht der Name von Aleika. Die einundzwanzigjährige läuft prompt an der achtzehnjährigen vorbei. "Hey, bist du Aleika?", fragt Mia. Die Kunststudentin dreht sich um und nickt. "Ja, warum?", fragt sie. "Ich bin Mia, ich bringe dich zu deiner Freundin.", erklärt sie. "Achso, ich bin etwas verpeilt.", entgegnet Aleika. Gemeinsam laufen sie zum Parkplatz. "Wow, geiles Teil!", ruft die einundzwanzigjährige begeistert. "Das ist ein Wiesmann MF4 GT Roadster, sagt zumindest mein Vater. Er liebt Autos und ich durfte sein kleines Baby nach meinem Führerschein fahren. Er hat sich ein neues Auto gekauft.", erklärt Mia, als wäre das vollkommen selbstverständlich. "Deine Familie muss ja sehr reich sein.", entgegnet Aleika. Auf Sri Lanka haben die wenigsten Familien ein Auto. Sie ist noch immer überrascht, wie reich die Deutschen eigentlich sind. "Dafür haben meine Eltern mich immer bei einem Babysitter abgegeben. Ich wurde eher von unseren Dienstmädchen und den Babysitterin erzogen. Ich weiß gar nicht, ob meine Eltern mich wirklich kennen. Für sie war ich immer ein hübsches Accessoire, das sie bei Feiern stolz vorzeigen konnten, aber sie haben sich nie wirklich um mich gekümmert.", erklärt Mia. Das stellt sich Aleika schrecklich vor. Für sie ist die Familie das Wichtigste, niemals könnte sie so über ihre Eltern reden und sie kann sich auch nicht vorstellen, dass ihre Eltern sie so behandelt hätten.
Zehn Minuten später sind sie da. "Das ist das Haus von Ella und ihrer Familie?", fragt Aleika. "Ja, bist du nervös?", entgegnet Mia grinsend. "Ein bisschen nervös bin ich schon. Ich weiß gar nicht, ob ich sie umarmen oder küssen soll. Hat sie ihrer Mutter mittlerweile von uns erzählt?", fragt die einundzwanzigjährige. "Sie hat ihrer Mutter noch nichts erzählt, aber ich denke, dass sie es bald tun wird.", antwortet die achtzehnjährige. "Bei meiner letzten Freundin wurde ich von ihrer Mutter rausgeworfen, sie meinte dass ich krank wäre und sie hat gesagt, dass ich eine Therapie deswegen machen soll.", erzählt die Kunststudentin. "Das ist verdammt mies. Aber Dana ist nicht so. Sie ist psychisch ziemlich labil und ich denke, dass Ella ihr deswegen noch nichts erzählt hat. Du weißt ja bestimmt, dass Dana Alkoholikerin ist, aber sie ist seit vier Monaten trocken. Ella wollte wahrscheinlich nicht riskieren, dass ihre Mutter wieder anfängt zu trinken.", erklärt Mia. Gemeinsam betreten sie den Garten. Ella nippt gerade lustlos an ihrem Longdrink, aber dann entdeckt sie die beiden. Aleika und Ella rennen aufeinander zu und umarmen sich.
"Hey mein Schatz. Alles Gute zum Geburtstag.", flüstert die einundzwanzigjährige. Ella kann kaum glauben, dass ihre Freundin vor ihr steht. "Darf ich dich küssen?", fragt Aleika leise und Ella nickt. Die beiden küssen sich und vergessen für einen kurzen Moment alles um sich herum. "Herzlichen Glückwunsch zum Outing!", ruft Finn begeistert. "Das ist meine Freundin Aleika. Sie studiert Kunst und lebt in Berlin.", stellt Ella die einundzwanzigjährige vor. "Ihr seid ja echt süß zusammen. Aber seid ihr wirklich beide lesbisch oder steht eine von euch auch auf Jungs?", fragt Marie interessiert. "Ich hatte tatsächlich mal einen Freund, aber das war keine richtige Liebe. Im Endeffekt wollte ich mir wahrscheinlich nur beweisen, dass ich hetero bin. Aber Gefühle für Mädchen hatte ich schon früher.", erklärt Ella. "Ich stehe auf Frauen, seit ich denken kann, beziehungsweise habe ich mich mit zwölf in meine Lehrerin verliebt. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht hetero bin.", antwortet Aleika. Dana umarmt die beiden. "Warum hast du mir das nicht schon vorher erzählt?", fragt Dana ihre Tochter. "Naja, ich wollte dich nicht belasten und außerdem hatten wir Bedenken, dass du vielleicht wieder anfangen könntest zu trinken.", flüstert die achtzehnjährige. "Warum sollte ich deswegen wieder mit dem Trinken anfangen? Das ist doch keine Belastung, ich will nur, dass du glücklich bist.", entgegnet Dana.
Niemals hätte Ella gedacht, dass alle das Outing so positiv aufnehmen und eigentlich hatte sie auch nicht gedacht, sich so schnell zu outen. Noch vor ein paar Tagen hat sie geträumt, dass sie sich vor ihrer Familie outet und dass das Ganze im Chaos endet. Sie hatte vor allem Angst, dass Marie nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Bei der dreizehnjährigen ist es so, dass man sie nur einmal falsch anschauen muss und plötzlich hasst sie die Person. Bei ihr dreht sich alles darum, cool und beliebt zu sein. Stundenlang steht sie vor dem Spiegel und fragt sich, wie das Outfit wohl bei den anderen ankommt. Marie ist abhängig von TikTok und Instagram. Dort zeigt sie ihr Leben und manchmal zerrt sie auch ihre Geschwister vor die Kamera. Ella und Finn lassen das manchmal über sich ergehen, damit die dreizehnjährige glücklich ist. Laut den Videos von Marie sind sie eine vollkommen normale und glückliche Familie. "Du, Ella? Ich finde das ganz toll und interessant, dass du mit einer Frau zusammen bist. Sollen wir alle zusammen ein Foto für Instagram machen?", fragt Marie hoffnungsvoll. "Na gut, du kleiner Social Media Junkie.", entgegnet Ella und alle stellen sich vor den Kirschbaum. Marie stellt höchst professionell ihr neues Stativ und die Spiegelreflexkamera auf. "Der Countdown läuft. Schaut bitte alle normal. Danach können wir Spaßfotos machen.", instruiert die dreizehnjährige. Dann rennt sie zu den anderen und umarmt ihren großen Bruder. Aleika legt ihren Arm um ihre Freundin und Ella lächelt. Danach stellt Marie die einundzwanzigjährige in ihrem neuen TikTok vor. "Das ist Aleika, sie ist die Freundin von meiner großen Schwester Ella. Die beiden sind zusammen und wir haben heute davon erfahren. Wenn ihr wollt, könnt ihr meiner Schwester Fragen stellen und sie wird sie dann in einem anderen Video beantworten.", erklärt die dreizehnjährige.
Das Video geht dank den richtigen Hashtags innerhalb von wenigen Stunden viral. "Wow, du hast schon fünfzig Fragen und alle sind begeistert von euch.", stellt Marie fest. Ella hält davon zwar nicht viel, aber ihrer kleinen Schwester zuliebe, beantwortet sie mit ihrer Freundin ein paar Fragen. "Marie, jetzt leg doch mal dein Handy weg. Wir feiern hier immerhin den Geburtstag von Finn und Ella.", fordert Dana ihre jüngste Tochter auf. Etwas widerwillig steckt die dreizehnjährige ihr Handy in die Tasche. Aber als die beiden Geschwister ihre Geschenke auspacken, holt Marie das Handy wieder raus und filmt das Geschehen. Von Dana bekommt Finn eine neue Anlage für sein Auto und Ella bekommt ein Fotoalbum mit Fotos von George und eine BahnCard. Benni hat den beiden Geschwistern ein Fotoshooting geschenkt und Mia schenkt den beiden einen Kurztrip nach Amsterdam. Aleika schenkt ihrer Freundin eine Zeichnung von George und Finn bekommt von ihr einen gebatikten Hoodie mit einem aufgedruckten Hanfblatt. Darüber freut sich der zwanzigjährige sehr und auch Ella ist begeistert von ihrem Geschenk. Als die Party vorbei ist, muss sich Ella wieder einmal von ihrer Freundin verabschieden. "Ich vermisse dich jetzt schon. In den Sommerferien komme ich dich besuchen.", flüstert sie. "Ich vermisse dich auch jetzt schon. Die Zeit war einfach zu kurz. Ich liebe dich.", entgegnet die einundzwanzigjährige leise. "Ich liebe dich auch.", flüstert die achtzehnjährige. Als Aleika in den ICE steigt, dreht sie sich noch einmal um und lächelt ihre Freundin an. "Bis bald. Pass auf dich auf.", ruft sie ihrer Freundin zu. Ella lächelt und winkt, bis sich die Tür schließt. Als der ICE nicht mehr zu sehen ist, macht sie sich auf den Heimweg. Noch nie war sie so glücklich und gleichzeitig so traurig.
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Silentium | LGBTQ
Fiksi RemajaElla spricht nicht. Ihr Schmerz ist zu groß. Aber als Ruby in ihr Leben tritt, wird Ella's Entschluss auf eine harte Probe gestellt. »Unter allen Torheiten, die ein Mädchen begeht, ist immer ihre erste Liebe eine der größten.«