Schmerz

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"Schatz, was hältst du davon, wenn wir nach Hamburg ziehen würden. Also rein theoretisch, würdest du mit mir nach Hamburg ziehen und noch mal die Schule wechseln?", fragt Ruby beiläufig beim Abendessen. "Nein, erstens will ich meine Familie nicht zurücklassen, zweitens bin ich in der Schule richtig glücklich und drittens glaube ich nicht, dass es sich besonders gut macht, wenn ich in so kurzer Zeit vier Schulwechsel hinter mir habe.", argumentiert Ella. "Du weißt schon, dass ich in Hamburg aufgewachsen bin und diese Stadt mehr als alles andere liebe, oder?", entgegnet die achtzehnjährige etwas gekränkt. "Und du weißt schon, dass ich hier aufgewachsen bin. Ich kann meinen Bruder nicht mit meiner kleinen Schwester und meiner labilen Mutter allein lassen. Dana geht es im Moment zwar gut, aber wenn ich jetzt wegziehen würde, weiß ich nicht, was das mit ihr macht. Ich kann meine Familie einfach nicht alleine lassen und wir reden ja nur rein theoretisch darüber, oder?", fragt Ella, die sich eigentlich sicher ist, dass das Gespräch nicht einfach so entstanden ist und mehr dahintersteckt. "Ja klar, das ist alles nur rein theoretisch. Vielleicht können wir ja nach der Schule nach Hamburg ziehen.", entgegnet Ruby. "Ich weiß es nicht. Wie gesagt, ich mache mir einfach Sorgen um meine Mama. Wir müssen das ja auch nicht jetzt entscheiden. Bis zum Abi ist ja noch ein bisschen Zeit.", erwidert die siebzehnjährige. "Ja, das stimmt.", sagt Ruby nachdenklich. Als die beiden Freundinnen abends im Bett liegen, können weder Ella, noch Ruby schlafen. Die siebzehnjährige macht sich Gedanken, dass Ruby früher oder später mit ihr Schluss machen wird, weil sie nicht sofort nach Hamburg ziehen möchte und die Gedanken von Ruby drehen sich um ihr geliebtes Hamburg und die Tatsache, dass Ella nicht sofort mit ihr dorthin ziehen möchte. Irgendwann schläft Ella vor Erschöpfung ein, aber Ruby ist noch immer wach. Die achtzehnjährige schleicht sich in die Küche und trinkt einen Kaffee. Dann schnappt sie sich ihren Laptop und schaut sich Bilder von ihrem geliebten Hamburg an.

Am nächsten Morgen geht Ella zur Schule, aber Ruby bleibt zuhause. Gedankenverloren schaut sich die achtzehnjährige wieder Bilder aus Hamburg an. Bilder von den Sehenswürdigkeiten, von ihr mit ihrer Familie und Bilder von ihren Freunden. Sie mag mit ihrem Vater vielleicht nach Köln gezogen sein, aber ihr Herz hat sie in Hamburg gelassen. Wie in Trance packt Ruby ein paar Klamotten, ihren Laptop und ihr Lieblingsbuch in eine Sporttasche. Dann läuft sie zum Bahnhof und betritt das Servicecenter. "Hallo, ich hätte gerne ein Ticket nach Hamburg Altona, für den nächsten ICE.", sagt sie mit zitternder Stimme. "Du bist wohl auf der Flucht, wa? Du hast Glück, der nächste IC fährt in fünfzehn Minuten. Du müsstest nicht umsteigen und du wärst schneller als mit dem ICE, denn beim ICE müsstest du in Hannover umsteigen.", informiert sie der Mitarbeiter. "Dann nehme ich ein Ticket für den IC.", entscheidet sich Ruby. "Das wären dann 69,90€. Zahlst du bar oder mit Karte?", fragt er. "Mit Karte.", antwortet Ruby und zückt ihre Bankkarte. "Dann wünsche ich dir eine gute Reise und viel Spaß in Hamburg. Dein IC fährt von Gleis zwei ab.", sagt der Mitarbeiter, überreicht ihr das Ticket und lächelt sie an. Ruby lächelt ihn an und gleichzeitig füllen sich ihre Augen mit Tränen. Die achtzehnjährige läuft zum Gleis und steigt direkt in den Zug.

"Schatz, ich bin wieder zuhause. Wie war dein Tag?", fragt die ahnungslose Ella und läuft in die Küche. Dort findet sie einen Zettel von Ruby.

Liebe Ella, es tut mir wahnsinnig leid, aber ich halte es hier keine Minute länger aus. Meine Mutter hat mir angeboten, dass sie mir jetzt eine Wohnung in Hamburg finanzieren kann, da sie der Meinung ist, dass ich dort auf eine bessere Schule kann und sie denkt, dass es besser für mich ist, wenn ich wieder mit meinen Freunden zusammen sein kann. Wahrscheinlich will sie nur, dass ich so weit wie möglich weg von Papa bin. Deswegen habe ich dich gefragt, ob du mit mir nach Hamburg ziehen würdest. Aber du wolltest ja nicht. Ich bin jetzt wahrscheinlich schon in Hamburg, wenn du diesen Zettel liest. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich liebe und dass ich dich nie vergessen werde. Aber du weißt ja auch, was mir Hamburg bedeutet und deswegen konnte ich nicht hier bleiben. Die Wohnung hier hat meine Mutter gekündigt, aber bis zum nächsten Monat kannst du noch hier wohnen. Es tut mir leid.
Deine Ruby

Ella kann es nicht glauben. Sie kann nicht glauben, dass sich ihre Freundin einfach so davon geschlichen hat und sie verlassen hat. Immer noch total schockiert ruft sie Finn an, der zehn Minuten später bei ihr ist. "Was für eine blöde Kuh. Sie hat dich einfach so verlassen, nur weil ihr eine verdammte Stadt wichtiger ist? Wie asozial ist das denn bitteschön?", fragt der neunzehnjährige wütend. Ella sagt gar nichts, sie ist am Boden zerstört. "Wir packen jetzt deine Sachen, denn in fünf Tagen musst du aus der Wohnung raus. Du ziehst wieder zu uns. Ich weiß, dass es dir nicht gefällt und ich hätte dir echt gewünscht, dass das mit Ruby klappt, aber es ist jetzt eben so. Die erste Liebe tut immer weh. Das war bei mir so und bestimmt auch bei Mama.", erklärt ihr Bruder. Traurig und deprimiert packt Ella ihre Sachen und Finn hilft ihr. Da alle Möbel von Ruby's Mutter gekauft wurden, muss Ella nur ihre Klamotten, ihre Bücher und ihre Schallplatten zusammenpacken. Nach drei Stunden haben sie alles zusammen gepackt und in Finn's Auto geladen. Der neunzehnjährige fährt mit seiner Schwester zuerst zu KFC, denn Ella liebt diesen Laden. Aber auch der Familybucket, den sich die beiden Geschwister teilen, muntert sie nicht wirklich auf. Als sie zuhause ankommen, nimmt Dana ihre Tochter in den Arm und tröstet sie. Finn hat sie unterwegs informiert, dass Ella wieder zuhause einzieht. "Ich weiß nicht, wie ich dir momentan helfen kann, ich möchte dir nur sagen, dass ich für dich da bin, wenn du reden möchtest.", flüstert sie. Ella weint und sinkt auf dem Boden zusammen. Dana und Finn setzen sich zu ihr.

Als sie am nächsten Tag in der Schule sitzt, bemerkt Benni, dass es seiner Sitznachbarin gar nicht gut geht. In der Pause spricht er sie darauf an und sie erzählt ihm die ganze Geschichte. "Das ist ja echt beschissen, aber sie gehört jetzt der Vergangenheit an und du solltest dein Leben leben. Ich nehme dich einfach mal mit zum Feiern. Vertrau mir, du wirst sie ganz schnell vergessen.", entgegnet Benni. Ella ist davon zwar gar nicht überzeugt, aber momentan kann sie jede Ablenkung gebrauchen. So kommt es, dass sie am Freitag Abend mit Benni feiern geht. Sie war noch nie so wirklich feiern und weiß gar nicht, wie das geht, aber Benni nimmt sie an die Hand und gemeinsam verbringen sie einen tollen Abend. Ella trinkt zum ersten Mal Alkohol. Auf der einen Seite fühlt sie sich total gut, weil sie jetzt ein typischer Teenager ist, auf der anderen Seite weiß sie, was Alkohol anrichtet und ist trotzdem vorsichtig. Aber an diesem Abend ist sie einfach nur ein Teenager und tanzt mit Benni, bis alle minderjährigen den Club verlassen müssen. Danach gehen sie noch zu Benni und schauen einen Film. Den Schmerz, den Ruby ihr zugefügt hat, hat Ella an diesem Abend fast vergessen.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt