Geschwisterliebe oder Geschwisterhass?

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"Hau ab, du kleiner Giftzwerg!", ruft Finn wütend. "Halt die Klappe, du blöder Idiot!", schreit Marie zurück. Ella rennt nach unten und findet im Wohnzimmer ihren großen Bruder und ihre kleine Schwester vor, die sich gegenüberstehen und sich vermutlich in den nächsten Minuten zerfleischen werden. Ella schaut ihre Geschwister fragend an. "Ich bin nur hierher gekommen, um ein paar Sachen zu holen und dieses Arschloch hat mich angeschrien.", erklärt Marie. "Das war ganz anders, du ignorantes Stück Dreck. Sie kam hier rein und hat Mama beleidigt. Mama ist raus gerannt und ich mache mir Sorgen um sie. Dann habe ich sie zur Rede gestellt und sie hat mich auch beleidigt. Eigentlich ist es doch ganz gut, dass sie bei Tom wohnt.", erklärt Finn und schaut seine kleine Schwester böse an. "Mama ist doch selbst schuld, immerhin war es ihre Entscheidung, so viel Alkohol zu trinken und sie ist erwachsen, also muss sie auch mit den Konsequenzen klarkommen. Bei Papa ist es viel besser, er kümmert sich um mich und ist der beste Papa, den man sich wünschen kann.", sagt Marie. "So ein menschlich abstoßendes Kind wie dich brauchen wir nicht.", schießt Finn gegen die jetzt dreizehnjährige. Das Mädchen wirft ein Glas nach ihrem Bruder, der blitzschnell ausweicht. "Du gestörte Ziege! Hau bloß ab!", ruft Finn empört. Marie will sich an ihrem Bruder vorbeiquetschen, aber er packt sie an ihrem rosa Hoodie. "Du gehst und zwar jetzt sofort und du tauchst hier erst wieder auf, wenn du gelernt hast, wie man sich seiner Mutter und seinen Geschwistern gegenüber respektvoll verhält.", sagt er ruhig, aber Ella erkennt an seiner Körperhaltung, wie angespannt er ist. "Willst du sonst noch was loswerden?", fragt Marie wütend. "Ja, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, du kleines Monster.", sagt Finn mit bebender Stimme. "Ich will euch nie wieder sehen!", ruft die dreizehnjährige mit Tränen in den Augen, bevor sie nach draußen rennt und die Tür zuknallt.

"Dieses kleine Monster denkt doch echt, dass sie sich wie der letzte Assi benehmen kann und dass wir das tolerieren. Die kleine Zicke ist doch nicht mehr ganz knusprig im Kopf!", ruft Finn äußerst empört. Ella versucht ihren älteren Bruder zu beruhigen und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Aber Finn ist zu angespannt, um sich zu beruhigen. "Du gibst mir aber schon Recht, oder etwa nicht?", fragt er mit bebender Stimme. Seine jüngere Schwester nickt zustimmend und Finn beruhigt sich tatsächlich ein bisschen. "Sie ist so arrogant und sieht nicht, wie sie andere damit nervt oder verletzt.", sagt Finn etwas ruhiger. Der neunzehnjährige ist noch immer außer sich vor Wut, aber seiner jüngeren Schwester zuliebe versucht er, sich zu beruhigen und seine kleine Schwester nicht mehr ganz so sehr zu hassen. Finn wirkt zwar, als hätte er alles im Griff, aber seit Dana kaum noch zuhause ist und sich nicht mehr um ihre beiden älteren Kinder kümmert, hat sich Finn geschworen, für Ella zu sorgen und alles zu tun, dass es ihr gut geht. Der neunzehnjährige kann einfach nicht zulassen, dass seiner jüngeren Schwester, mit der er eine so besondere Verbindung hat, etwas passieren könnte oder dass es ihr nicht gut geht. Ella spürt, dass viel im Kopf ihres Bruders vor sich geht. 'Sie hat es bestimmt nicht so gemeint.', schreibt die siebzehnjährige auf einen Zettel. "Ist das dein Ernst? Dieses kleine Monster sabotiert unsere Familie und zerstört sie seit Monaten. Du bist ziemlich gutgläubig, aber so naiv kannst nicht mal du sein.", erwidert Finn, obwohl er weiß, dass seine Schwester das komplette Gegenteil ist. Ella ist gar nicht naiv und gutgläubig, sie hat eher die Angewohnheit, alles negativ zu sehen. Als Gott oder was auch immer den Pessimismus verteilt hat, hat sie gleich zweimal 'hier' geschrien. Das ist das erste Mal, dass Finn so etwas zu seiner Schwester gesagt hat und augenblicklich hat der neunzehnjährige schlimme Schuldgefühle. Auch Ella ist schockiert, denn Finn hat noch nie etwas negatives zu ihr gesagt.

"Finn? Ella? Marie?", ruft Dana, die sich mittlerweile wieder nach Hause getraut hat. Die beiden Geschwister stürmen die Treppe nach unten, so schnell sie können. Ella fällt ihrer Mutter zuerst in die Arme und schnuppert unauffällig, ob sie etwas getrunken hat, aber die siebzehnjährige riecht nichts. Finn nimmt seine Mutter und seine Schwester in den Arm und auch er riecht unauffällig, aber der neunzehnjährige kann auch keinen Alkohol riechen. "Wo ist denn eure kleine Schwester?", fragt Dana ihre beiden älteren Kinder. "Dieses kleine Monster ist garantiert nicht unsere Schwester. Wahrscheinlich wurde sie bei der Geburt vertauscht oder so.", sagt Finn empört. "Sie ist eure Schwester und ich will nicht, dass ihr solche gemeinen Sachen über sie sagt oder denkt.", entgegnet die Mutter der beiden und schaut ihre Kinder streng an. "Sie hat ziemlich fiese Dinge über dich gesagt. Wir haben sie dann rausgeworfen und dich verteidigt. Was ist daran so schlimm? Sie hat doch bei ihrem supertollen Vater so viele Klamotten, warum braucht sie die Klamotten, die sie noch bei uns hat?", fragt Finn. "Bei Tom ist es nicht so toll, wie sie vielleicht sagt. Marie hat mit mir gesprochen und hat gefragt, ob sie zurückkommen kann. Ich habe es ihr erlaubt.", erklärt Dana. Finn und Ella starren ihre Mutter fassungslos an. "Nach allem, was das kleine Monster zu dir gesagt hat, lässt du sie auch noch hier einziehen? Sie ist doch selbst schuld an dieser Situation. Hätte sie dich besser behandelt, müsste sie jetzt nicht betteln, dass sie zurückkommen darf.", sprudelt es aus dem neunzehnjährigen heraus. "Nenn sie nicht so.", ermahnt Dana ihren Sohn. Ella verschränkt ihre Arme und schaut ihre Mutter böse an. "Mir ist es egal, ob es euch gefällt oder nicht, Marie ist immer noch mein Kind und ich lasse nicht zu, dass Tom ihr noch mehr weh tut. Ich rufe sie jetzt an und sie wird hier wieder einziehen. Und ich erwarte von euch, dass ihr euch benehmt, als wären wir eine richtige Familie, was wir auch sind, aber ihr macht das kaputt, weil ihr so wahnsinnig stur seid.", erklärt Dana.

Zwei Stunden später sitzt die dreizehnjährige wie ein Häufchen Elend auf der Couch und hat Tränen in den Augen. Dana kümmert sich liebevoll um ihre jüngste Tochter. Die beiden älteren Geschwister halten Abstand von Marie, denn sie haben die Worte ihrer kleinen Schwester nicht vergessen und sie werden garantiert nicht so tun, als wäre alles gut. In der Nacht hört Ella ein leises Weinen aus dem Zimmer ihrer jüngeren Schwester. Die siebzehnjährige will auf keinen Fall Mitleid mit ihr haben, aber nach zehn Minuten schleicht sie sich leise zu Marie und setzt sich an ihr Bett. Die dreizehnjährige schaut ihre ältere Schwester verwirrt an. "Was machst du hier?", fragt sie. Ella nimmt ihre kleine Schwester in den Arm und Marie erwidert die Umarmung. "Bei Papa war es total scheiße. Er hat sich nie um mich gekümmert, er war immer nur arbeiten oder mit Freunden unterwegs und dann hat er andauernd neue Freundinnen gehabt. Dann hat er auch noch meinen Geburtstag vergessen. An dem Tag ist er mit seiner neuen Freundin in Urlaub gefahren und hat mich alleine gelassen.", flüstert Marie, als sie sich ein bisschen beruhigt hat. Ella streicht ihrer kleinen Schwester über den Kopf. Als Marie noch ein Baby war, hat sie das immer beruhigt und das ist auch heute noch so. "Es tut mir so wahnsinnig leid. Ich wollte das alles nicht sagen, aber Mama hat wirklich ein Problem mit dem blöden Alkohol. Ihr müsst das doch auch schon bemerkt haben.", sprudelt es aus Marie heraus. Die siebzehnjährige nickt nachdenklich. Dass Dana ein Alkoholproblem hat, ist schon längst kein Geheimnis mehr, aber Finn und Ella haben lange ihre Augen davor verschlossen und so getan, als wäre alles in Ordnung. In dieser Nacht schläft Ella bei ihrer kleinen Schwester und es wirkt fast so, als würde alles wieder gut werden. Ella passt auf ihre kleine Schwester auf, wie sie es früher getan hat.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt