Notbremse

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"Denkst du wirklich, dass das etwas bringt?", fragt Marie nachdenklich. "Ich glaube nicht wirklich daran, aber ich hoffe natürlich, dass sie uns wenigstens ein bisschen verstehen kann.", antwortet ihr großer Bruder. "Hoffentlich stoßen wir sie damit nicht noch weiter von uns weg.", gibt Dana zu bedenken. "Das könnte natürlich passieren. Aber willst du riskieren, dass Ella in ihr eigenes Unglück rennt? Wenn wir nichts machen, wird sie uns spätestens in ein paar Jahren Vorwürfe machen. Es muss sein.", entgegnet Finn. Als die siebzehnjährige auftaucht, nimmt ihr Bruder sie in den Arm und sie weint. "Ich weiß wie es dir geht. Es ist beschissen und man kann nichts dagegen tun. Man kann es irgendwann verarbeiten, aber nicht vergessen.", flüstert der neunzehnjährige. Seine jüngere Schwester nickt. "Irgendwann willst du den Schmerz auch nicht mehr betäuben. Was du momentan machst, ist in Ordnung. Trotzdem solltest du vorsichtig sein und es nicht übertreiben. Vielleicht kannst du dich ein bisschen mehr auf die Schule konzentrieren und etwas weniger feiern.", schlägt Finn vor. "Es tut einfach so verdammt weh.", flüstert Ella. "Ich weiß, aber du bist stark. Du schaffst das. Ich glaube an dich.", entgegnet ihr Bruder. Jetzt gesellen sich auch Dana und Marie zu den beiden. "Wir sind für dich da, vergiss das bitte nicht.", sagt Dana und umarmt ihre Tochter. "Du bist so viel hübscher, wenn du lachst.", bemerkt Marie. Ella ist gerührt, sie hätte nicht gedacht, dass ihre Familie für sie da sein würde.

Nachmittags sitzen Benni und Ella an den Hausaufgaben für Chemie. "Ich muss dir etwas erzählen.", flüstert Benni nervös. "Was ist los? Du kannst mit mir über alles reden.", entgegnet Ella. "Als ich sechzehn war, wurde ich von meinem Vater rausgeworfen. Er wollte nicht akzeptieren, dass ich schwul bin. Ich habe drei Tage lang auf der Straße gelebt, bis mich ein älterer Mann mit nach Hause genommen hat. Er hat mir Essen gegeben und ich konnte schlafen. Irgendwann kam er zu mir und wollte mit mir schlafen. Ich konnte ihn nicht abweisen, er hat sich immerhin um mich gekümmert. Am nächsten Tag hat er mir hundert Euro gegeben und gesagt, dass ich gehen soll. Ich saß also wieder auf der Straße. Nach zwei Tagen bin ich zufällig am alten Güterbahnhof gelandet. Dort haben Schwule und Transsexuelle ihren Körper verkauft. Ich habe mich dann auch dort hingestellt und nach ein paar Minuten saß ich in einem Auto. Auch dieser Mann hat mir Essen gegeben, ich konnte duschen und schlafen. Auch er kam zu mir und wollte mich. Am nächsten Morgen hat er mich wieder weggeschickt. Ich bin in einem totalen Teufelskreis gelandet. Irgendwann habe ich angefangen zu koksen. Das Zeug war verdammt teuer und irgendwann musste ich mit mehreren Männern am Tag schlafen, um mir das Koks und eine Wohnung finanzieren zu können.", sagt er wie in Trance. Ella schaut ihren besten Freund fassungslos an. "Es kommt noch schlimmer. Ich war richtig abhängig und früher oder später wäre ich gestorben. Ich war ganz unten, ich war alleine und hatte keinen Sinn mehr im Leben. Ich wollte nicht mehr so weitermachen, also wollte ich mich umbringen.", fährt er fort. "Wie bist du da wieder raus gekommen?", fragt Ella gespannt und schockiert gleichzeitig. "Meine Mutter hat mich wieder nach Hause geholt. In der Zwischenzeit hatte sie sich von meinem Vater getrennt und sie hat sich um mich gekümmert. Ich habe einen ziemlich krassen Entzug gemacht und dann kam ich auf unsere Schule. Ich habe fast zwei Jahre Schulstoff verpasst und musste den ganzen Kram wiederholen. Und jetzt bin ich schon wieder überfordert.", erklärt Benni mit Tränen in den Augen. "Ich kann kaum glauben, was du gerade erzählt hast. Es ist einfach so krass, dass du es wieder raus geschafft hast. Ich bin echt froh, dass du jetzt hier bist. Und ich bin stolz auf dich. Das hätte nicht jeder geschafft. Außerdem ist Chemie verdammt kompliziert und ich bin auch überfordert. Wir sollten einfach eine Pause machen.", schlägt Ella vor und Benni nimmt das Angebot an.

Zehn Minuten später sucht Ella im Internet nach einer ernsthaften Beziehung und ihr bester Freund unterstützt sie dabei. "Ernsthaft? Hier findet man entweder nur Paare oder Frauen, die nur mal etwas Neues ausprobieren wollen. Ich suche jemanden für eine Beziehung und niemanden, der nur vögeln möchte.", regt sich die siebzehnjährige auf, während sie Eis isst. "Das kann doch manchmal ganz erfrischend sein.", entgegnet Benni und grinst. "Aber ich bin auf der Suche nach der großen Liebe. Ich möchte jemanden kennen lernen, zu dem ich nach Hause komme und mich freue. Ich möchte eine Frau finden, mit der ich reisen kann und die mich unterstützt.", erwidert die siebzehnjährige. "Dann wirst du wahrscheinlich ewig suchen. In der heutigen Zeit findest du nicht mal eben die große Liebe. Du musst viele Frösche küssen, bevor du wirklich die große Liebe findest. Hab einfach ein kleines bisschen Geduld.", rät Benni seiner besten Freundin. "Ich weiß, aber trotzdem möchte ich mich mal wieder verlieben und jemanden finden, der mich so liebt wie ich bin. Manchmal fühle ich mich so einsam und allein. Es tut weh, wenn ich glückliche Paare sehe. Ich will einfach nicht mehr alleine sein.", flüstert Ella. "Eigentlich habe ich gedacht, dass uns das aufmuntern würde. Außerdem bist du nicht allein. Du hast mich und du hast deine Familie. Natürlich verstehe ich dich, aber man muss eben seine Erfahrungen machen. Lass dich nicht unterkriegen, du bist so wundervoll und du wirst bestimmt bald die richtige Frau finden.", bestärkt der neunzehnjährige sie. "Vielleicht sollte ich einfach mal ein paar Frauen anschreiben, vielleicht ergibt sich ja etwas.", überlegt Ella. "Natürlich machst du das. Du bist eine starke und unabhängige Frau, du musst auch mal die Initiative ergreifen und dir eine süße Frau klären.", bestätigt Benni die siebzehnjährige. Ella nimmt ihren ganzen Mut zusammen und schreibt mehrere Frauen an. Ein paar Frauen schreiben ihr tatsächlich zurück und von ein paar Frauen wird sie geghostet. Am Ende des Tages liegen die Hausaufgaben für Chemie noch immer auf dem Tisch und warten darauf, dass sie jemand löst. Ella ist zu sehr in das Schreiben vertieft. Mit einer Frau aus Berlin teilt sie die Angewohnheit, ihre Pommes in einen Milkshake zu tauchen. Andere würden das vermutlich als eklig bezeichnen, aber für Ella ist es eine fantastische Kombination.

Als Benni auf dem Heimweg ist, trifft er einen Bekannten von früher. Es handelt sich um einen Mann, der Benni vor drei Jahren kurzzeitig bei sich aufgenommen hat. "Hallo Benjamin. Das ist aber ein Zufall. Ich habe dich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wo warst du denn die ganze Zeit?", fragt er. "Ich habe mein Leben wieder in den Griff bekommen.", entgegnet Benni. "Hast du mittlerweile einen festen Wohnsitz oder möchtest du bei mir einziehen?", fragt der Mann. "Ich habe eine eigene Wohnung und ich habe absolut kein Interesse an dir.", antwortet der neunzehnjährige. "Das ist aber schade. Wir haben uns doch früher so gut verstanden. Möchtest du nicht etwas Geld verdienen? Eine eigene Wohnung ist doch ziemlich teuer, gerade wenn man so jung ist. Was arbeitest du denn?", fragt der vierzigjährige. "Ich kann meine Wohnung finanzieren und außerdem geht es dich gar nichts an, was ich arbeite. Wir haben uns früher lediglich verstanden, weil ich keinen Platz zum Schlafen hatte und weil du immer genug Koks für mich hattest.", klärt Benni ihn auf. "Willst du ein bisschen Koks haben? Ich habe zufällig ein halbes Gramm dabei.", flüstert er. "Du bist ziemlich erbärmlich. Falls es dich interessiert, ich nehme gar kein Koks mehr. Ich habe dir doch gesagt, dass ich mein Leben im Griff habe.", flüstert Benni zurück und läuft weiter. "Ich würde sowieso nicht mehr mit dir schlafen wollen, du hast bestimmt Aids oder so, du kleines Stück Dreck!", ruft der Mann dem neunzehnjährigen hinterher.

Als er wieder in seiner Wohnung ist, macht er sich tatsächlich Gedanken über seine Vergangenheit. Benni spürt plötzlich wieder das Verlangen, eine Line zu ziehen. Um sich abzulenken, geht er spazieren. Dabei ist er so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt, wo er hin läuft. "Na du hübscher, was möchtest du denn haben? Koks, Ecstasy oder Heroin?", fragt der ehemalige Dealer des neunzehnjährigen. Plötzlich wird ihm bewusst, wo er gelandet ist. "Ich glaube, ich hätte gerne Koks, aber ich habe kein Geld.", flüstert Benni kleinlaut. "Diese Line bekommst du geschenkt, aber in Zukunft musst du für deinen Stoff bezahlen.", entgegnet der Dealer. Benni konsumiert den Stoff sofort. Erst dann wird ihm bewusst, wie sehr er das Koks vermisst hat. Er hat den Geschmack vermisst und das Gefühl, wenn das Koks die Kehle herunter läuft. Ein paar Tage später ist er wieder voll auf der Szene unterwegs und geht auch wieder anschaffen. Benni trifft wieder auf alte Bekannte, die ebenfalls konsumieren und auf ehemalige Freier, die jetzt auch auf der Szene unterwegs sind und anschaffen gehen. Es ist fast so, als wäre er nie weg gewesen. Der neunzehnjährige hat ein schlechtes Gewissen, aber andererseits denkt er, dass er alles unter Kontrolle hat. Das Koks vernebelt seinen Verstand, denn er hat rein gar nichts unter Kontrolle.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt