Am nächsten Morgen wacht Ella sehr früh auf. Das ist für das Mädchen ziemlich ungewöhnlich, denn sie schläft meistens erst gegen zwei Uhr morgens ein und schläft, bis Dana kurz vorm ausrasten ist. Heute wacht sie aber schon um sechs Uhr auf, nach vier kurzen Stunden Schlaf. Sie hört ein leises Weinen aus dem Zimmer ihrer kleinen Schwester. Nach einigen Minuten beschließt sie, Marie zu trösten. Ella überlegt erst gründlich, da sie vermutet, dass Marie sich gar nicht von ihr trösten lassen will. Aber sie hat Mitleid mit ihrer kleinen Schwester, denn der Tag gestern war wohl ziemlich anstrengend für Marie. Die sechzehnjährige schleicht leise über den Flur und setzt sich auf das Bett ihrer Schwester. Marie erkennt sie. Das Mädchen hört sofort auf zu weinen und schaut ihre große Schwester sehr böse an. "Verpiss dich, ich komm alleine klar.", flüstert sie wütend. Ella legt ihre Hand auf die Schulter ihrer Schwester, um sie zu beruhigen. Marie schlägt ihre Hand sofort weg. "Du willst doch auch nicht, dass Papa wieder nach Hause kommt. Du bist genau so schlimm wie Mama und Finn. Niemand versteht Papa, außer mir. Er hat es nicht verdient, dass ihr ihn so behandelt. Er ist der einzige, der mich verstanden hat und ich bin die einzige, die ihn verstanden hat.", sagt sie und fängt wieder an zu weinen. Ihre große Schwester verdreht genervt die Augen, trotzdem bleibt sie sitzen, in der Hoffnung, dass Marie sich ihr anvertraut, wie früher, als Ella noch geredet hat und sie für Marie ein Vorbild war. "Bist du jetzt auch noch taub, du dumme Kuh? Du sollst dich endlich aus meinem Zimmer verpissen. Komm nie wieder in mein Zimmer. Ich hasse dich.", flüstert die zwölfjährige wütend. Ella verlässt geknickt das Zimmer und schwört sich, dass sie nie wieder Mitleid mit dem kleinen Monster haben wird.
Beim Frühstück herrscht eine sehr eisige Stimmung. Finn ist müde und unterhält sich ein bisschen mit seiner Mutter. Ella verfolgt das Gespräch zwischen den beiden und Marie starrt wütend auf ihre Cornflakes. Wenn Blicke töten könnten, würden die Cornflakes augenblicklich zu Staub zerfallen. Diesen Blick kann Finn, genau wie Ella und wie Marie. Dana versucht nach ein paar Minuten mit ihrer jüngsten Tochter ein Gespräch aufzubauen, aber die zwölfjährige blockt jeden Versuch ab. Nach einigen gescheiterten Versuchen bricht Dana die Kontaktaufnahme ab und widmet sich wieder ihren beiden älteren Kindern. "Und wie ist es in der Schule? Hast du Spaß?", fragt sie Ella. Die sechzehnjährige zieht eine Augenbraue nach oben. Spaß? In der Schule? Die Frau ist doch nicht mehr ganz knusprig!, denkt sie und zuckt mit den Schultern. Finn muss anfangen zu lachen. "Mama, die Schule ist okay, aber niemand hat dort Spaß. Du wirst gezwungen, den halben Tag dort zu verbringen und Ella langweilt sich dort.", erklärt er. Seine Schwester nickt zustimmend. "Aber für das Gymnasium bist du offensichtlich zu blöd.", bemerkt Marie höhnisch. "Halt die Klappe, du ignorantes, kleines Biest.", murmelt Finn. "Hört auf, wir brauchen nicht noch mehr Streit in diesem Haus.", versucht Dana ihre Kinder zu besänftigen. Finn verdreht die Augen und Marie holt zum Angriff aus. "Wer ist denn schuld dass unser Leben jetzt komplett am Arsch ist? Wer hat denn alles zerstört, was Papa uns aufgebaut hat? Wer hat ihn vertrieben? Du. Das alles ist doch nur deine Schuld!", ruft sie. Danach schnappt sie sich ihre Tasche und stolziert nach draußen. Ella wirft ihrer Mutter einen versöhnlichen Blick zu. "Sie hat noch nicht sein wahres Gesicht gesehen, aber das wird sie früher oder später. Mach dir keine Gedanken wegen dem kleinen Monster. Wir stehen hinter dir. Es war gut, dass ihr euch getrennt habt. Das war das Beste, was uns in den letzten Jahren passiert ist.", erklärt er und seine Schwester nickt zustimmend.
Finn und seine Freunde begleiten Ella wie jeden Morgen zu ihrem Klassenraum. Heute hat das Mädchen in den ersten zwei Stunden Chemie, eines ihrer Lieblingsfächer. "Lass dich nicht unterkriegen. Du bist ein ganz tolles Mädchen. Bis später.", flüstert Finn und macht sich auf den Weg zu seinem Unterricht. Es ist acht Uhr und die Lehrerin ist noch nicht da. Das macht Ella ein bisschen nervös, weil sie so ihrer Klasse schutzlos ausgeliefert ist. "Hey, du stumme Vollidiotin. Kannst du sprechen oder bist du einfach nur zu blöd dafür?", fragt ein Mädchen. "Vielleicht hat ihre Mutter in der Schwangerschaft gesoffen und das da hat einen Hirnschaden.", ergänzt ein anderes Mädchen. Ella würde am liebsten abhauen, aber ihre Beine sind wie versteinert. In diesem Moment kommt die Lehrerin und schließt den Raum auf. In der Doppelstunde beschäftigen sie sich mit Säuren und Ella wird von der Lehrerin aufgefordert, den Versuch vorzuführen. Das Mädchen blendet die lachenden Gesichter und die blöden Kommentare der anderen aus und konzentriert sich auf den Versuch. Sie ist stolz, dass die Lehrerin ihr das zutraut und noch stolzer ist sie, als der Versuch erfolgreich ist. Die anderen schauen sie wütend an, wahrscheinlich haben sie gehofft, dass Ella sich versehentlich die Säure über den Arm kippt. Die Lehrerin räumt die Materialien weg und beauftragt alle, den Versuch schriftlich festzuhalten. Sie verlässt den Raum und niemand denkt daran, die Aufgabe zu machen. Ein Junge holt die Säure, während sich alle um Ella versammeln. "Sprichst du jetzt mit mir?", fragt er und lächelt überlegen. Ella starrt ihn wütend an. "Sie würde nicht einmal reden, wenn ich ihr Säure ins Gesicht kippen würde.", bemerkt er. Die anderen feuern ihn an. Er öffnet die Flasche und hält sie über Ella's Kopf. Das Mädchen ist ganz ruhig. Nach einer Weile verliert er das Interesse und bringt die Säure zurück. Ein paar Sekunden später betritt die Lehrerin den Raum und setzt den Unterricht fort. Niemand lässt sich anmerken, dass in den Minuten, in denen sie nicht da war, etwas passiert ist.
In der Freistunde will Ella gerade den Raum verlassen, als sie von zwei Mädchen zurückgehalten wird. "Du wirst dich nicht wieder verziehen. Wir haben etwas mit dir zu klären.", sagt eines der beiden Mädchen. Der Klassensprecher erklärt ihr, dass sie kein Teil der Klasse ist und dass sie sich im Unterricht zurückhalten soll. "Du sollst keinen Spaß in der Schule haben. Du bist es nicht wert, dass man dir Aufmerksamkeit schenkt. Du bist wertlos. Du bist nutzlos. Am besten bringst du dich gleich um. Dich wird niemand vermissen, weil dich niemand mag.", sagt er bedrohlich. Aber Ella ist das schon gewohnt. Solche Sprüche bekommt sie alle paar Tage zu hören und auch ihre alte Klasse auf dem Gymnasium hat ihr solche Vorträge gehalten. Allerdings konnten sie sich um einiges besser ausdrücken als der Klassensprecher ihrer neuen Klasse. Die sechzehnjährige hat keine Angst vor den anderen. Manchmal fragt sie sich, was in deren Leben passiert ist, dass sie andere so behandeln. Und manchmal würde sie die anderen gerne verprügeln. "Hast du mich verstanden?", fragt der Klassensprecher laut. Das Mädchen nickt und lächelt innerlich. In ein paar Monaten ist sie die ganzen Idioten los und kann sich auf ihr Ziel konzentrieren. Sie möchte in einem Chemielabor arbeiten oder professionell zeichnen. Um seine Macht zu demonstrieren, packt er das Mädchen und steckt sie in den Mülleimer. Die anderen lachen und sie ist jetzt doch ein bisschen niedergeschlagen.
Zuhause tut Ella so, als wäre nichts passiert und diesmal kann sie sogar ihren Bruder täuschen. Marie schmollt noch und zieht es vor, in ihrem Zimmer zu essen. Das hätte Dana ihren beiden älteren Kindern nie erlaubt, aber Marie kann offensichtlich machen was sie will. Auf die Frage, wie es in der Schule war, zucken beide nur die Schultern. Dana hatte gehofft, dass Finn etwas gesprächiger ist. Auch Ella kommuniziert nicht. Weder mit ihrer Mutter, noch mit ihrem Bruder. Nach dem Essen setzt sie sich sofort an ihren Zeichenblock und zeichnet mehrere Stunden lang. Sie bemerkt gar nicht, dass Finn plötzlich in ihrem Zimmer steht und sie beobachtet. Als sie ihn sieht, zuckt sie vor Schreck zusammen. "Was ist los mit dir?", fragt er und setzt sich auf ihr Bett. Die sechzehnjährige zuckt mit den Schultern. "War etwas mit den Idioten aus deiner Klasse?", fragt er weiter. Wieder zuckt seine Schwester mit den Schultern. "Haben sie dich bedroht?", fragt er mit zitternder Stimme. Ella nickt und er nimmt sie in den Arm. "Ich werde ab jetzt noch besser auf dich aufpassen. Wenn im Unterricht etwas passiert, schreib mir. Ich komme dann sofort zu dir. Ich werde dich niemals allein lassen.", verspricht er. Das will sie nicht. Er soll sich doch auf seinen Unterricht konzentrieren und Zeit mit seinen Freunden verbringen. Das Mädchen hat Schuldgefühle. Er war immer für sie da, aber sie wünscht sich, dass er sein eigenes Leben führt. Sie will für niemanden eine Belastung sein und eigentlich kommt sie auch ganz gut alleine zurecht, aber scheinbar merkt das niemand. Sie versteht zwar, dass Finn immer für sie da sein will, aber manchmal geht es ihr ziemlich auf die Nerven und sie fühlt sich von seiner Fürsorge regelrecht erdrückt. Finn soll einfach nur sein eigenes Leben leben und akzeptieren, dass seine Schwester nicht so viel Hilfe braucht, wie er denkt.
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Silentium | LGBTQ
Teen FictionElla spricht nicht. Ihr Schmerz ist zu groß. Aber als Ruby in ihr Leben tritt, wird Ella's Entschluss auf eine harte Probe gestellt. »Unter allen Torheiten, die ein Mädchen begeht, ist immer ihre erste Liebe eine der größten.«