Der Sinn des Lebens

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In Berlin sitzt mittlerweile die einundzwanzigjährige Kunststudentin vor ihrer theoretischen Zwischenprüfung. Sie ist mehr als verzweifelt. Panisch schaut sie zu ihrer besten Freundin Kim, deren Kugelschreiber nur so über das Papier saust. In diesem Moment ist sie ziemlich neidisch auf ihre beste Freundin. Kim muss nie lernen und schreibt die besten Noten. Das Abitur hat sie geschafft, obwohl sie fast jeden Tag gefeiert hat und in der Schule hat sie dann geschlafen. Aleika weiß keine einzige Antwort. Sie musste sich alles erkämpfen. Das Abitur hat sie nur geschafft, indem sie Tag und Nacht gelernt hat und auch für die Prüfungen innerhalb des Studiums lernt sie bereits einen Monat vorher. Eine Stimme in ihrem Kopf, die immer lauter wird, sagt ihr, dass sie nichts wert ist, dass sie dumm ist und dass sie das alles sowieso nicht schafft. Die einundzwanzigjährige wünscht sich in diesem Moment, dass sie noch bei ihrer Mutter auf Sri Lanka wäre. Dort war irgendwie alles viel einfacher. 'Was soll das? Hat dein Vater dich zu einer Verliererin erzogen oder hat er dich zu einer starken, jungen Frau erzogen? Denkst du wirklich, dass er dich so sehen will?', denkt Aleika und rafft sich langsam auf. In ihrem Kopf geht sie die letzten Vorlesungen durch und beantwortet die Fragen, so gut es geht. Als die Zeit vorbei ist, gibt sie ihre Prüfungen ab. "Das war ja mal total easy! Komm, wir rauchen was.", empfängt Kim, die schon seit einer halben Stunde mit der Prüfung fertig ist, ihre beste Freundin. "Ich befürchte, dass ich die Prüfung verhauen habe.", flüstert Aleika deprimiert. "Quatsch, du brauchst eine vier, um zu bestehen. Du bist so schlau, du hast die Prüfung garantiert bestanden.", entgegnet Kim euphorisch. Die einundzwanzigjährige versucht positiv zu denken, aber sie hat den absoluten Pessimismus ihrer Mutter geerbt. Da konnte auch der ansteckende Optimismus ihres Vaters nicht mehr helfen.

Eine Woche später sitzen die beiden besten Freundinnen auf der Couch und warten, bis die Prüfungsergebnisse endlich online sind. "Sie sind da, die Ergebnisse sind da!", ruft Kim begeistert. Die Begeisterung von Aleika hält sich in Grenzen. Als sie ihren Namen auf der Liste findet, rutscht ihr das Herz in die Hose. "Ich habe bestanden und du?", fragt Kim euphorisch. "Es sieht so aus, als hätte ich nicht bestanden. Ich bin durch die Prüfung gefallen.", flüstert Aleika und bricht in Tränen aus. "Ich bin so verdammt dämlich! Warum konnte ich diese scheiß Prüfung nicht einfach bestehen? Ich habe so viel dafür gelernt, Tag und Nacht. Warum bin ich überhaupt nach Deutschland gekommen, wenn ich hier nach Strich und Faden versagte? Auf Sri Lanka war alles viel einfacher.", schimpft sie über sich. "Aber du hast mir doch erzählt, dass du auf Sri Lanka irgendwann nicht mehr glücklich warst. Und dann war da doch noch die Sache mit deiner Schwester. Es war richtig und wichtig, dass du hierher gekommen bist. Jetzt lass dich doch nicht unterkriegen. Du beruhigst dich jetzt erstmal und morgen schreibst du unserer Dozentin eine Mail. In einem besonderen Härtefall kann man die Prüfung wiederholen. Erzähl einfach ein bisschen von deiner Flucht nach Deutschland, das wird sie bestimmt überzeugen.", erklärt Kim, die unbedingt möchte, dass ihre beste Freundin weiterhin studieren kann. "Selbst wenn, das Stipendium wird futsch sein. Da gibt es sehr strenge Auflagen und ich kann das Studium nicht selbst bezahlen. Meine Schichten im Diner decken gerade so die laufenden Kosten ab. Ich kann es mir einfach nicht leisten.", entgegnet Aleika und verkriecht sich unter einer Decke. Nach ein paar Stunden fällt sie in einen unruhigen Schlaf.

Vor zwei Jahren lebte Aleika noch mit ihrer Schwester Nani und mit ihrer Mutter auf Sri Lanka. Die beiden Schwestern sitzen gerade am Strand und lernen Deutsch, als ihre Mutter plötzlich auftaucht. "Alles Gute zum Geburtstag mein Schatz.", flüstert sie und umarmt ihre jüngere Tochter. "Danke Mama.", entgegnet Nani. Die drei laufen zurück in ihre Hütte und Nani staunt. Ihre Mutter muss ewig dafür gespart haben. Auf dem Tisch steht eine Torte und daneben liegt ein Päckchen. "Das war ziemlich teuer.", bemerkt Nani und hat Schuldgefühle. "Das ist egal.", entgegnet die Mutter. Wenig später feiern die drei den Geburtstag von Nani. Aber die Mutter der beiden wirkt irgendwie abwesend. "Was ist los?", fragt Aleika. "Ich muss mit euch reden. Hier ist es nicht mehr sicher für euch. Wir haben kein Geld mehr und ich muss euch wohl kaum erklären, was das bedeutet.", flüstert die Mutter traurig. Das muss sie wirklich nicht erklären. Seit Aleika und Nani sich erinnern können, verschwinden Mädchen von heute auf morgen. Sie kamen einfach nicht mehr zur Schule und niemand wusste etwas darüber. Als Aleika fünfzehn Jahre alt war, hat ihr Vater ihr erzählt, was mit diesen Mädchen passiert ist. Wenn die Familien der Mädchen kein Geld mehr hatten, um die Mafia zu bezahlen, wurden die Mädchen von ihnen weggeholt. Was dann mit ihnen passiert ist, wollte er nicht sagen, aber er brach in Tränen aus. Aleika hat ihren Vater noch nie weinen gesehen. Eine Woche nach diesem Gespräch wurde er beim Einkaufen erschossen. "Wir können uns die Medikamente für Nani nicht mehr leisten. Sie sind einfach zu teuer geworden.", erklärt die Mutter und Tränen laufen über ihr Gesicht. Nani hat Diabetes, das wurde festgestellt, als sie sieben Jahre alt war. "Und was machen wir jetzt?", fragt Aleika, die Angst vor der Antwort hat. "Ihr flüchtet. Ich habe schon alles organisiert. Ihr werdet morgen am Hafen in ein Boot steigen.", erklärt die Mutter. Am nächsten Morgen verabschieden sich die drei voneinander. Nani und Aleika begeben sich auf ihre Flucht, die einen Monat dauert und zahlreiche Leben fordert. Wie durch ein Wunder überleben die Schwestern und kommen unterernährt und sehr geschwächt in Hamburg an. Sie laufen nur wenige Meter, bis beide zusammenbrechen und in das nächste Krankenhaus eingeliefert werden. Da beide keine Papiere haben, müssen sie nach ihrer Entlassung in ein Flüchtlingsheim. Fast ein Jahr warten die Schwestern, bis sie endlich arbeiten dürfen. Durch die Erlebnisse auf Sri Lanka und die Flucht sind sie so traumatisiert, dass sie eine Therapie machen müssen. Die Therapeutin von Aleika bemerkt, dass die junge Frau sehr kreativ ist und sie informiert sich über ein Stipendium für die junge Frau. Gemeinsam stellen sie ein Portfolio zusammen und reichen es ein. Aleika ist so talentiert, dass sie das Stipendium an der Universität der Künste bekommt. Eine Sozialarbeiterin aus dem Flüchtlingsheim hilft ihr, eine Wohnung in Berlin zu finden. Auf diesem Weg lernt die junge Frau ihre beste Freundin Kim kennen, die gerade auf der Suche nach einer Mitbewohnerin ist. Nani arbeitet im Krankenhaus als Pflegehelferin. Dort lernt sie auch ihren zukünftigen Mann kennen, der dort als Arzt arbeitet.

"Aleika? Hey, es wird Zeit, aufzuwachen.", weckt Kim ihre beste Freundin. Die einundzwanzigjährige kommt langsam wieder zurück in die Realität. "Was ist los?", fragt sie verwirrt. "Du hast vierzehn Stunden geschlafen. Du musst unbedingt unserer Dozentin schreiben.", erklärt Kim. Ihre beste Freundin zuckt nur mit den Schultern. Sie fühlt sich so leer, so schwach und wertlos. Kim versucht sie aufzubauen, aber Aleika ist am Boden zerstört. Sie lässt sich nicht aufmuntern und sie spricht auch nicht mehr. Als sie wieder schläft, schnappt sich Kim das Handy ihrer besten Freundin und ruft Ella an. Die siebzehnjährige macht sich sofort auf den Weg nach Berlin. Als sie ein paar Stunden später ankommt, holt Kim sie am Bahnhof ab. "Es ist ziemlich schlimm. Sie schläft nur noch und sie spricht nicht mehr. Ich mache mir Sorgen um sie.", erklärt Kim. "Danke dass du mir Bescheid gesagt hast. Mit sowas kenne ich mich aus.", entgegnet Ella. Als sie in der Wohnung ankommen, ist Aleika wach und schaut geistesabwesend eine Serie. Ella setzt sich zu ihr und nimmt sie in den Arm. Aleika weint mindestens eine halbe Stunde. Ella streicht ihr über den Kopf. Langsam beruhigt sich die einundzwanzigjährige. "Ich bin so dämlich.", flüstert sie. "Das bist du nicht. Du bist so schlau und wundervoll. Wir schreiben jetzt deiner Dozentin und dann gehen wir nach draußen. Du musst etwas essen.", erklärt Ella. Aleika stimmt zu. Nachdem sie die Mail geschrieben haben, verlassen sie die Wohnung. Die einundzwanzigjährige war seit Tagen nicht draußen. Ella schafft es, ihre Freundin aufzubauen. Als sie ein paar Stunden später zurück kommen, hat Aleika eine neue Mail bekommen. Ihre Dozentin hat ihr geschrieben, dass sie die Prüfung in einer Woche wiederholen kann. Die Kunststudentin tanzt durch die Wohnung. Gemeinsam mit Kim und Ella lernt sie für die Prüfung. Als die siebzehnjährige Sonntags wieder nach Hause fährt, fällt es den beiden besonders schwer, sich zu verabschieden. "Du kommst doch zu meinem Geburtstag, oder?", fragt Ella hoffnungsvoll. "Da muss ich leider arbeiten, aber ich kann zwei Tage später zu dir fahren. Da habe ich dann Semesterferien und Urlaub.", antwortet Aleika. Traurig steigt Ella in den Zug. Ihr einziger Geburtstagswunsch soll also nicht in Erfüllung gehen. Trotz allem freut sie sich, dass ihre Freundin die Prüfung wiederholen kann.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt