"Warum ausgerechnet Köln? Hätten wir nicht in Hamburg bleiben können?", fragt Ruby genervt, als sie die Kartons nach oben trägt. "Deine Mutter lebt in Hamburg.", antwortet ihr Vater Lukas. "In Hamburg wohnen fast zwei Millionen Menschen, da wirst du Mama doch nicht jeden Tag über den Weg laufen.", erwidert die siebzehnjährige genervt. Sie hasst alles an Köln. Den Dom, den Rhein, die Menschen und das Ghetto, wo sie jetzt leben muss. Kölnberg, was ist das denn für ein bescheuerter Name?, fragt sie sich, während sie im Aufzug steht, der ziemlich stark nach Urin riecht. Als alle Kisten oben sind und Ruby ihr neues, viel kleineres Zimmer eingerichtet hat, flüchtet sie in die wundervolle und magische Welt von Harry Potter. Vor einem Monat war noch alles in Ordnung. Sie hat mit ihren Eltern und ihrem Hund in einem Haus in Altona gewohnt und war glücklich. Aber wir aus heiterem Himmel haben ihre Eltern beschlossen, dass sie sich trennen müssen. Ruby's Mutter hat das Haus behalten und da man in der kleinen Wohnung in Köln keine Haustiere haben darf, musste Ruby auch ihren Hund Severus bei ihrer Mutter lassen. Abends setzt sich Lukas an ihr Bett. "Du wirst bestimmt schnell neue Freunde finden. Gib Köln wenigstens eine Chance.", bittet er seine Tochter. Ruby zuckt nur mit den Schultern. Sie schwört sich, dass sie zurück nach Hamburg zieht, sobald sie Geld verdient. Das Mädchen kann in dieser Nacht nicht schlafen. Die Wände sind dünn und die Nachbarn schreien sich an. Babys weinen und Hunde bellen. Ruby will einfach nur nach Hause. Sie verflucht ihre Mutter, die jetzt alleine in dem Haus leben kann. Ruby hat kein gutes Verhältnis zu ihr, da sie das Mädchen als Kind immer zu verschiedenen Babysittern abgeschoben hat. Ihr Vater war aber immer für sie da. Nach der Arbeit hat er ihr stundenlang vorgelesen. Das hatte zur Folge, dass sie heute sehr gerne liest und unbedingt Germanistik studieren möchte. Aber Ruby's Noten sind zu schlecht und sie musste vor zwei Jahren auf die Realschule wechseln. Das Mädchen liegt stundenlang in ihrem Bett und kann nicht einschlafen. Als sie dann doch endlich einschlafen kann, ist es drei Uhr morgens.
Um sechs Uhr klingelt Ruby's Wecker. Das Mädchen wird langsam wach und realisiert, dass sie für die nächsten Monate in Köln gefangen ist. "Aufwachen, heute gehst du in die neue Schule. Willst du frühstücken?", fragt Lukas gut gelaunt. Ruby zieht sich die Decke über den Kopf. Sie ist ein ziemlicher Morgenmuffel und schläft lieber noch eine halbe Stunde, statt mit ihrem Vater zu frühstücken. Als sie in der Bahn steht, sinkt ihre Laune immer weiter. Die Haltestelle hat sie auch nur mit Google Maps gefunden. Das Mädchen vermisst ihre Schule in Hamburg und als sie vor ihrer neuen Schule steht, hofft sie, dass das alles ein Traum ist. Das Gebäude ist dreckig und von außen könnte man nicht denken, dass das eine Schule ist, die tatsächlich noch genutzt wird. Das Gebäude sieht eher aus wie ein Lost Place, den Ruby sofort mit ihren Freunden erkundet hätte. Es gibt drei Gebäude auf dem Gelände. Das sauberste ist das Gymnasium. Die beiden Gebäude für die Realschüler und die Hauptschüler sind ungefähr gleich dreckig. Der Hof, den sich Realschule und Hauptschule teilen müssen, ist dreckig und voller Müll. Dort kann man sich nirgends hinsetzen oder zurückziehen. Innen ist es noch schlimmer. Überall stinkt es nach Schweiß, Erbrochenem und Urin. Der braune Teppichboden stinkt am meisten und die Wände, die früher wohl einmal grau waren, sind voller Flecken und Graffiti. Als Ruby an den Toiletten vorbeiläuft, muss sie sich fast übergeben. Der Geruch erinnert sie an einen besonders heruntergekommenen Lost Place, den sie mit ihren Freunden erkundet hat. Sie waren nur kurz in der ehemaligen Tuberkuloseklinik in Prag, da sie den Geruch kaum ausgehalten haben. Ruby beschließt, diese Toilette niemals zu betreten.
Ihre alte Schule ist ganz anders. Sie ist sauber und riecht immer ein bisschen nach Zitrone, weil die Reinigungskräfte mindestens einmal pro Tag putzen. Ob es an dieser Schule überhaupt Reinigungskräfte gibt?, fragt sich das Mädchen. Der Boden ist hell und mit modernen Fliesen gestaltet. Jedes Stockwerk hat eine andere Wandfarbe zur Orientierung und eine ist schöner als die andere. An den Wänden hängen die schönsten Bilder aus dem Kunstunterricht und die besten Fotografien aus der Foto-AG. In Vitrinen stehen die anderen Werke aus dem Kunstkurs und dem Naturwissenschaftskurs. In jedem Raum steht ein Whiteboard und jeder Schüler bekommt von der Schule einen Laptop, um mitzuschreiben und die Aufgaben zu lösen. Auch die Hausaufgaben werden überwiegend am Laptop erledigt. Trotz der großen Anzahl der Schüler wird jeder individuell gefördert und kann nach der sechsten Klasse die Kurse wählen, die ihn wirklich weiterbringen. Ruby hat damals Geschichte, Sport und einen zusätzlichen Kurs in Deutsch gewählt. Vor allem sind ihre Freunde noch in Hamburg. Sie vermisst alle sehr. Die Jugendlichen haben sich versprochen, dass sie auf jeden Fall in Kontakt bleiben, aber als Ruby ihre Hilfe beim packen gebraucht hätte, waren alle mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt. Seit das Mädchen in Köln angekommen ist, hat sie noch nichts von ihren Freunden gehört, obwohl sie sich bei allen gemeldet hat. Die siebzehnjährige kommt zu dem Entschluss, dass ihre alte Schule in Hamburg perfekt ist und dass sie jetzt in der Hölle gelandet ist.
Als Ruby endlich ihren Klassenraum gefunden hat, wird sie von allen angestarrt. Wie unhöflich., denkt sie und setzt sich neben das einzige Mädchen, das sie nicht angestarrt hat. Außerdem liest sie und das macht sie für Ruby direkt sympathisch. Ella ist in ihr Buch vertieft und bemerkt gar nicht, dass sich jemand neben sie gesetzt hat. "Hey, ich bin Ruby und wie heißt du?", fragt das Mädchen. Ella schaut sie erschrocken an. "Die redet nicht und eigentlich gehört sie auch gar nicht hierher, sondern in eine Klapse.", erklärt ein Mädchen. "Du solltest dich besser zu uns setzen, wir sind nämlich cool.", ergänzt ein anderes Mädchen. "Bei der musst du wirklich aufpassen, die ist komplett gestört. Keiner von uns redet mit ihr. Sie gehört einfach nicht dazu.", klärt sie der Klassensprecher auf. "Setz dich zu uns, wir sind wenigstens nicht so gestört wie die.", sagt ein Mädchen aus der ersten Reihe. "Ich denke dass ich ganz gut erkennen kann, wer hier gestört ist.", entgegnet Ruby. Vierundzwanzig Jugendliche schauen sie böse an. "Wow, so schnell habe ich mich noch nie unbeliebt gemacht.", flüstert sie Ella zu. Das Mädchen lächelt ein bisschen.
Im Unterricht wird Ella wieder schikaniert und der Lehrer macht nichts dagegen. Entweder fällt es ihm nicht auf oder es ist ihm einfach egal. Ruby beobachtet die Situation eine Weile, bis es ihr zu viel wird. "Ihr wisst schon, dass das Mobbing ist, oder?", fragt sie laut. Augenblicklich ist alles still. "Sie könnte euch alle dafür anzeigen.", ergänzt sie. "Ruhe!", unterbricht sie der Lehrer und bis zur Pause ist alles ruhig. Ella schreibt einen Zettel für Ruby und schiebt ihn ihr unauffällig zu. 'Danke dass du mich verteidigt hast. Ich heiße Ella.' Ruby liest den Zettel und schreibt zurück. 'Das ist doch normal.' In der Pause überschlagen sich die Ereignisse. Zwei Jungs packen Ella und drücken sie gegen die Wand. Ruby rennt nach vorne und befreit das Mädchen. Ella rennt sofort nach draußen und Ruby folgt ihr. "Du redest nicht.", stellt sie fest, als sie das Mädchen eingeholt hat. Ella nickt. "Ich kann genug für zwei quatschen. Ich bin da, wenn du willst. Ich bin nicht wie die anderen Idioten.", erklärt die Neue. Das Mädchen schaut sie an und glaubt ihr kein Wort. "Ich finde dich irgendwie sympathisch.", sagt Ruby und lächelt sie an. Ihr Lächeln ist ehrlich und Ella muss auch ein bisschen lächeln.
Sie ist schon irgendwie nett., denkt Ruby, als sie Zuhause vor ihrem Plattenspieler steht und eine bestimmte Platte sucht. Aber warum redet sie nicht?, fragt sie sich. Ella scheint überhaupt die einzige Person in Köln zu sein, die keinen kompletten Dachschaden hat. Ruby beschließt, dass sie sich mit dem Mädchen anfreunden will, denn sie ist ziemlich interessant und auch ein bisschen heiß. Hör auf damit! Das bringt dich nur wieder in Schwierigkeiten., ermahnt sie sich selbst. Dabei denkt sie an das letzte Mädchen, das sie angebaggert hat. Ruby war mit ihrer Mutter im Clubhaus und hat sich unter diesen reichen Menschen wahnsinnig gelangweilt. Zumindest bis ihr ein süßes Mädchen in ihren Alter aufgefallen ist. Sie hat ein bisschen mit ihr geflirtet, aber leider war das Mädchen ziemlich hetero und verklemmt. Sie ist sofort zu ihrer Mutter gerannt und hat behauptet, dass Ruby sie belästigt hat. Seit diesem Tag darf Ruby den Club der reichen Idioten nicht mehr betreten und ihre Mutter war monatelang sauer auf sie. Dann will ich wenigstens mit ihr befreundet sein., denkt Ruby und hat endlich die Platte gefunden, nach der sie gesucht hat.
Eigentlich ist sie schon ziemlich nett. Zumindest ist sie netter, als alle anderen aus der Schule., denkt Ella, als sie mit Finn Pizza isst und American Horror Story schaut. Aber zu mir ist nie jemand nett. Wahrscheinlich ist sie so wie alle anderen., überlegt das Mädchen. Und was ist, wenn sie doch nett ist? Vielleicht können wir Freunde werden. Außerdem hat sie mich verteidigt. Aber ich bin komisch und mit mir will niemand befreundet sein., denkt Ella und versucht sich auf die Serie zu konzentrieren. Nach ein paar Minuten kreisen ihre Gedanken aber wieder um Ruby. Sie scheint nett zu sein. Vielleicht will sie auch mit mir befreundet sein. Sie ist auf jeden Fall ziemlich cool und schlagfertig. Es wäre schön, eine Freundin zu haben., denkt sie. Auch den Rest des Tages kreisen ihre Gedanken immer wieder um die Neue und sie beschließt, erst einmal abzuwarten, ob Ruby den ersten Schritt macht. Insgeheim hofft Ella natürlich, dass sie sich miteinander anfreunden.
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Silentium | LGBTQ
Fiksi RemajaElla spricht nicht. Ihr Schmerz ist zu groß. Aber als Ruby in ihr Leben tritt, wird Ella's Entschluss auf eine harte Probe gestellt. »Unter allen Torheiten, die ein Mädchen begeht, ist immer ihre erste Liebe eine der größten.«