Gemeinsamkeiten

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Am nächsten Montag setzt sich Ruby wie gewohnt neben Ella, aber sie bemerkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Ella liest zwar wie gewohnt ein Buch, aber sie scheint es nicht richtig zu lesen, sondern starrt mehrere Minuten lang die gleiche Seite an. "Hey, ist alles okay bei dir?", fragt Ruby vorsichtig. Ihre Sitznachbarin nickt, aber Ruby glaubt ihr nicht. Ihr fällt sofort auf, dass Ella starke Augenringe hat und sehr deprimiert wirkt. Auch die Mobbingattacken scheinen der sechzehnjährigen heute absolut gar nichts auszumachen. Es wirkt vielmehr so, als wäre ihr alles egal. Bei Ruby, die das ganze nicht noch einmal mit ansehen kann, ohne etwas zu tun, schrillen alle Alarmglocken. "Falls du reden willst, naja, vielleicht willst du doch lieber schreiben, ich bin da.", flüstert sie. Ella schaut ihre Sitznachbarin verdutzt an. "Du bist nicht so unsichtbar, wie du denkst. Auch wenn du schweigst, sendest du immer noch Signale und für die meisten sind sie vielleicht unsichtbar oder nicht so wichtig, aber ich erkenne sie und mir ist es nicht egal.", erklärt Ruby leise. Das überrascht Ella ziemlich, denn normal ist sie für die anderen tatsächlich unsichtbar, außer wenn sich die anderen über sie lustig machen. Sie schenkt ihrer Sitznachbarin ein schüchternes Lächeln und Ruby lächelt zurück. "Willst du nach der Schule zu mir kommen? Ich kenne mich hier nicht so gut aus und habe auch keine Freunde hier. Aber du bist toll, ich würde mich sehr freuen, wenn du zu mir kommen würdest.", sprudelt es aus der siebzehnjährigen heraus. Ella nickt und schenkt Ruby dieses Mal ein offenes und ehrliches Lächeln, das von Ruby noch offener und noch ehrlicher erwidert wird.

Finn war ganz aus dem Häuschen, als seine Schwester ihm geschrieben hat, dass sie vielleicht eine neue Freundin gefunden hat und nach der Schule zu ihr geht. Er macht sich zwar auch ein bisschen Sorgen, dass Ella wieder verletzt werden könnte, aber er hofft, dass seine Schwester selbst erkennt, ob ihr dieses Mädchen gut tut oder nicht. Er hat angeboten, die beiden zu fahren, aber Ella hat nur wild mit dem Kopf geschüttelt und ihren großen Bruder böse angesehen. "Ist ja schon gut, dann fahrt ihr eben mit dem Zug. Wo wohnt sie eigentlich?", fragt Finn neugierig. Seine Schwester zuckt mit den Schultern. "Wenn irgendetwas passiert, wenn du dich nicht wohl fühlst oder wenn es dir nicht gefällt, schreib mir sofort und ich hole dich ab.", erklärt er. Ella nickt, aber innerlich verdreht sie die Augen. Zu Hause sitzt Finn auf glühenden Kohlen und auch Dana ist ein bisschen nervös. Ella hatte zwar als Kind Freunde, aber seit George gestorben ist, hat sie niemanden mehr an sich heran gelassen. "Ich hoffe einfach, dass da nichts schief geht.", flüstert Dana. "Da wird schon nichts schiefgehen, Ella hat eine sehr gute Menschenkenntnis. Sie kann gute Menschen von bösen Menschen ganz gut unterscheiden.", entgegnet Finn zuversichtlich. "Ich weiß dass sie etwas besonderes ist, aber die Welt ist so schrecklich zu Menschen, die auch nur ein bisschen anders sind.", erwidert Dana und eine Träne läuft über ihre Wange. "Ella ist stark, sie schafft das. Vertrau ihr einfach.", flüstert Finn, der seine Mutter in den Arm nimmt. Dana ist ein kleines bisschen erleichtert, da ihr ältester Sohn sie beruhigt hat. Trotzdem macht sie sich noch Sorgen um ihre Tochter. Sie hat die blauen Flecken nicht übersehen, mit denen Ella damals nach Hause kam. Sie wollte mit ihrer Tochter reden, aber Ella hat auf einen Zettel geschrieben, dass alles okay ist und dass sie sich beim Sport verletzt hat. Dana hat das keine einzige Sekunde geglaubt, aber sie konnte nichts weiter machen. Auch aus Finn hat sie nichts herausbekommen und er weiß normalerweise alles von und über seine kleine Schwester.

Nach der Schule geht Ella also zu Ruby. Sie fahren mit der S-Bahn und Ruby quatscht die ganze Zeit. Aber als sie aussteigen, wird Ruby plötzlich ganz still und verlegen. "Du hast bestimmt nichts Gutes von dieser Gegend gehört.", flüstert die siebzehnjährige beschämt. Ella schaut sie fragend an. "Du weißt doch wo wir sind, oder?", fragt Ruby. Ella schüttelt den Kopf. Ruby glaubt ihr kein einziges Wort, aber sie findet es ziemlich süß, dass Ella so tut, als würde sie diesen Schandfleck von Köln nicht kennen. Als sie durch Ruby's Straße laufen, schaut sich Ella interessiert um. "Schau einfach auf den Boden. Nicht umdrehen, wenn jemand nach uns ruft. Schau denen bloß nicht in die Augen.", flüstert Ruby und nimmt Ella an die Hand. Die sechzehnjährige zeigt stumm auf das blaue Auge von Ruby, die nur mit den Schultern zuckt. "Ich hätte nie gedacht dass ich mal in so einem Ghetto leben muss. Lass uns schnell weiter gehen.", flüstert Ruby und die beiden Mädchen rennen nach oben. Im Gang steht ein kleiner Junge und pinkelt gegen die Wand. Ein Stockwerk weiter oben liegt eine Frau vor ihrer Wohnung und hämmert gegen die Tür. Sie riecht stark nach Alkohol und wurde scheinbar ausgesperrt. Als die Mädchen endlich oben ankommen, fällt Ella ein Stein vom Herzen. Sie war tatsächlich noch nie in dieser Gegend. Auch Ruby ist sichtlich erleichtert. Sie schließt sofort die Wohnungstür ab.

"Was willst du essen? Wir haben Nudeln mit Käse, Ofenkäse, Mozzarellasticks und Chili Cheese Nuggets. Also ja, ich stehe ziemlich auf Käse und natürlich sollte ich das nicht, weil Käse ungesund ist und jetzt plötzlich alle vegan werden, aber ich kann das nicht. Ich brauche mein süßes Zitroneneis aus dem Penny und mein Toast mit Frischkäse und Marmelade. Ich bin einfach Trash und esse nur Trash.", sprudelt es aus Ruby heraus. Ella schaut sie grinsend an. "Ich halte jetzt am besten einfach mal meine Klappe, oder?", fragt Ruby nervös. Ella schüttelt den Kopf und lächelt. "Also was willst du essen?", fragt Ruby. Ella zeigt ihr drei Finger. "Also Mozzarellasticks?", fragt die siebzehnjährige und Ella nickt begeistert. "Ruby, mach mir bitte mal die Tür auf!", ruft jemand von draußen. Ella schaut Ruby erschrocken an. "Das ist nur mein Vater. Er ist ganz harmlos, wenn man ihm genug zu essen gibt und ihn seine romantischen Komödien schauen lässt.", erklärt Ruby und schließt die Tür auf. Ein Mann, der genauso aussieht wie Ruby, stolpert mit vier Einkaufstaschen in die Wohnung und packt sie in der Küche sofort aus. "Ich habe dein Zitroneneis und deine Chips bekommen und natürlich ganz viel Käse.", sagt er und atmet schwer. Er bemerkt Ella erst nicht, bis Ruby ihn an den Schultern packt und zum Tisch umdreht. "Das ist Ella, sie ist in meiner Klasse und sie ist der coolste Mensch, den ich in Köln bis jetzt getroffen habe.", erklärt sie. Ella winkt ihm zu und lächelt schüchtern. Ruby erklärt ihm, dass Ella nicht spricht. Lukas ist von Ella ganz entzückt. "Es ist so toll dass du schon jemanden gefunden hast, mit dem du dich verstehst. Und dann ist sie auch noch so zurückhaltend und süß. Köln wird uns Glück bringen.", sprudelt es aus Lukas heraus, der genauso gerne zu reden scheint, wie seine Tochter.

Nach dem Essen verziehen sich die beiden Mädchen in Ruby's Zimmer. Ella ist ganz begeistert von dem Zimmer ihrer neuen Freundin. Auch Ruby besitzt sehr viele Bücher, aber Ella interessiert sich mehr für die Schallplatten. Die sechzehnjährige entdeckt Platten von Elvis, David Bowie und Nirvana, von Queen, Pink Floyd, von den Sex Pistols und Gloria Gaynor, von Fleetwood Mac und Suzi Quatro. Als nächstes widmet sich Ella den Büchern. Auch hier findet sie viele Bücher, die sie selbst zu Hause stehen hat, unter anderem Harry Potter, die Physiker, Der Vorleser, Damien, das Ich und das Es von Sigmund Freud und In meinem Himmel. "Es ist nichts besonderes.", sagt Ruby verlegen. Ella zieht entgeistert eine Augenbraue nach oben und dreht sich begeistert im Zimmer umher. Ruby fasst sich ein Herz und zeigt Ella ihren ganzen Stolz, eine Sammlung von alten Schwarz-Weiß-Filmen. Auch hiermit stößt sie auf absolute Begeisterung. Die beiden Mädchen schließen sich ein und schauen den ganzen Nachmittag alte Filme. Dabei diskutieren sie all die gesellschaftskritischen Themen, die in den Filmen vertreten sind.

Ruby und Ella vergessen die Zeit und als sie wieder auf die Uhr schauen, ist es schon halb eins und Ella hat die letzte Bahn verpasst. Sie schreibt ihrem Bruder, der fünfzehn Minuten später da ist. Er hat sich schon Gedanken gemacht und seine Schwester mit Anrufen und Nachrichten bombardiert. "Das ist schon ein ziemlich krasses Ghetto.", bemerkt Finn, als Ella zu ihm ins Auto steigt. "Ist deine Freundin assi?", fragt er im Scherz. Dafür erntet er einen bösen Blick von seiner jüngeren Schwester. "Ist sie cool?", fragt er. Ella nickt begeistert und lächelt. Finn lächelt auch und dreht die Musik auf. Er will seine jüngere Schwester jetzt nicht mit Fragen nerven, sondern sie soll einfach die Zeit genießen, in der es ihr gut geht. Denn Ella hatte nie wirklich Glück oder Zeit dafür, glücklich zu sein. Finn wünscht sich nichts sehnlicher, als das Glück seiner Schwester und wenn diese neue Freundin sie glücklich macht, dann soll es wohl so sein und er wird sich diesmal auf keinen Fall und unter gar keinen Umständen einmischen. Ella schaut gedankenverloren nach draußen und Finn ist glücklich, dass seine Schwester dank Ruby nicht die ganze Zeit an George denken muss.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt