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𝓒𝙻𝙰𝚁𝙴𝙵𝙸𝙽𝙴 𝓗𝙰𝚉𝚈
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🅂chokolade für die Seele, Milch für das Gemüt. Ein üppiger Kakao schadete nie und normalerweise konnte ich die Dinger regelrecht verschlingen. Als ich gestern Abend jedoch eine volle Tasse mit Sahne und Marshmellows vorgesetzt bekommen hatte — ein Bilderbuch-Kakao und offenkundig Silvius' materialisiertes schlechtes Gewissen —, war er nach einer Stunde noch immer nicht leer gewesen. Noch nie hatte ich mir so viel Zeit mit Schokolade gelassen, aber ich hatte das Gefühl gehabt, wäre er leer gewesen, so hätte ich mich mit all diesem Hüter-Wahnsinn konfrontieren müssen. Dieser Kakao hatte meine Sanduhr dargestellt. Die Sanduhr, die jene Zeit bemaß, in der ich noch in meiner normalen, so schön ätzenden Welt verweilen würde, ehe sie um mich herum zerbrach und ein Chaos aus Buchwelten, Hütern, sprechenden Bären und anderem surrealen Kram hinterließ. Jeder Schluck, der meine Kehle herabgeronnen war, hatte einen Schwall kleiner Körner symbolisiert, die durch die Verengung des Stundenglases rieselten und irgendwann war meine Zeit abgelaufen gewesen.

„Ich bin müde. Ich gehe schlafen", hatte ich stumpf gesagt, als er leer gewesen war. Was ich eigentlich gemeint hatte, war: Ich brauche etwas Zeit allein, lass mich in Ruhe.

Silvius war der Einzige gewesen, der geduldig gewartet hatte, bis ich ausgetrunken hatte. Atticus hatte bereits nach wenigen Minuten keine Lust mehr gehabt und war gegangen, der merkwürdige Bär hatte nach einer halben Stunde aufgegeben. Silvius aber war unerschütterlich geblieben, hatte sich in fast schon stoischer Ruhe neben mich auf das Podest... oder Portal... oder was es auch immer war, gesetzt und sich in regelmäßigen Abständen dafür entschuldigt, dass sein Hüter mich auf so unsensible, gefährliche Art und Weise in ein Buch gezerrt hatte, um Beweise zu erzwingen. Ich hatte einfach nur dagesessen, geschwiegen und geschlürft.

Anschließend hatte ich ihn allein gelassen und mich zurück ins Bett gelegt, wohl in der Hoffnung, wenn ich aufwachte, wäre ich wieder auf Pauli und kurz davor, den nächsten Bus nach Köln zu nehmen. Doch als ich die Augen aufgemacht hatte, hatte mich derselbe altmodische Raum mit demselben Schrank, derselben Couch und demselben Gemälde an der Wand angestarrt, bereit, mich in den Wahnsinn zu treiben.

Hüter, magische Buchwelten... das war doch verrückt, oder?

Aber ich hatte es ja selbst gesehen. Zweimal.

Seufzend stand ich vor dem Spiegel und sah in meine eigenen, schlammbraunen Augen, während ich das vom Duschen nasse Haar kämmte und irgendwann innehielt. Geschafft fuhr ich mir durchs Gesicht und zwang mich, einmal tief durchzuatmen. Konnte ich noch immer nach Köln und das alles einfach hinter mir lassen? Vermutlich. Aber ich würde nie vergessen. Würde mich immer fragen, wann ich wieder unkontrolliert in einem Buch landete und irgendwann noch verrückter werden, als ich mich jetzt schon fühlte. Nein, ich musste bleiben. Mir anhören und erfahren, womit ich es zu tun hatte und wer ich eigentlich war. Denn die unauffällige, graue Maus mit der zerrütteten Familie, für die ich mich immer gehalten hatte, schien bei weitem nicht alles zu sein. Waren meine leiblichen Eltern etwa auch solche Hüter gewesen?

Mein Magen knurrte. Ein Frühstück war eine gute Idee, also zog ich mir eine dieser tristen Stoffhosen an und griff nach einem Leinenhemd. Gerade, als ich es überziehen wollte, fiel mir im Augenwinkel etwas Schwarzes an meiner Schulter auf. Verwirrt hielt ich inne, trat näher an den Spiegel und verrenkte mich so gut es ging, um es besser sehen zu können. Tatsächlich. Da war etwas, und es gehörte nicht zum Bustier. Den Bügel zur Seite geschoben, stellte ich fest, dass es sich um eine Art Tattoo handeln musste. Auf mich wirkte es wie unter die Haut gestochene Tinte, nur hatte sie im Licht so einen merkwürdigen, metallischen Schimmer, der beinahe schon in Richtung dunkelblau-lila ging. Irgendwie cool, aber ich konnte bei bestem Willen nicht erkennen, was es darstellen sollte. Es machte einen unfertigen Eindruck, als hätte man nur einen Bruchteil des Motivs gestochen. Die Enden liefen an den Seiten blass aus.

𝓑𝐮̈𝐜𝐡𝐞𝐫𝐬𝐞𝐞𝐥𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt