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𝓘𝙽𝚂𝙰𝚂𝚂𝙸𝙽 5350030
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🅆as ist eigentlich am Leben, das es so ätzend und anstrengend macht?
Eine Frage, die widerspenstig in meinem Kopf umherwaberte, heraufbeschwört von meiner in letzter Zeit fast schon chronisch schlechten Laune.
Ich saß im neumodischen Fiat 500 meiner Mutter, hatte mich aus Trotz auf die verboten enge Rückbank gequetscht und philosophierte mürrisch darüber, warum das Leben doch so scheiße war.

Meine Beine gezwungenermaßen angewinkelt wie ein Frosch, lehnte ich mit dem Ellbogen am Fenster und starrte finster auf die vorbeiziehende Landschaft, während ich meine abgestützte Wange knautschte wie ein Kissen.
Im Radio lief gerade eines dieser penetrant gefeierten Latino-Lieder mit Refrain, der nur aus instrumentalem Bum-Bum bestand. Meine Mutter sang in Möchtegern-Spanisch mit, gleichzeitig blies mir von vorn die viel zu ambitionierte Klimaanlage ins Gesicht, als wolle sie im Wagen die neue Eiszeit einläuten.

Außerdem blubberte mein Blut.

Also nicht wortwörtlich — hoffentlich. Doch seit ein paar Tagen kribbelte da ein rastloses, unruhiges Gefühl in mir, als versuchte eine Armee aus Käfern aus dem Gefängnis meiner Adern auszubrechen.
Nervig. Extrem nervig. Vor allem in diesem Sarg einer Rückbank, der mir kaum Spielraum ließ, mich gegen die an meiner Geduld kratzenden Unruhe zu bewegen.

Alles um mich herum war zum Kotzen und was nicht zum Kotzen war, rang ich irgendetwas Negatives ab, das es zum Kotzen machte.

Angefangen bei dieser Autofahrt. Mal abgesehen davon, dass sie sich schon viel zu lange hinzog, hatte sie ein ödes, ländliches Internat in der Eifel zum Ziel, in dem ich ab sofort aufregungslos leben und lernen sollte. Denn als meine Mutter sich die Frage stellte, was ihr Leben so ätzend und anstrengend machte, kam sie zu dem Schluss, dass ich das war.

Seit meine Mutter sich von meinem Vater getrennt und als seine Sekretärin aufgehört hatte, startete sie karrieretechnisch durch. Sie leitete eine große Klinik oder ein Krankenhaus oder sowas — keine Ahnung, worin da der Unterschied besteht — und war eigentlich durchgehend beschäftigt. Früh fuhr sie morgens zur Arbeit und kam erst spät wieder nach Haus. Nachdem sie ausgiebig meine Unordnung, Faulheit und apathische Nichtsnutzigkeit kritisiert hatte, obwohl ihr nur eine kleine Chipstüte auf dem Wohnzimmertisch Anlass dazu gab, kramte sie ihre Weinflasche hervor, schenkte sich ein ordentliches Glas ein und verscheuchte mich in mein Zimmer mit ihren Filmen über depressive Kommissare und krisenhafte Familiendramen.

Für nichts hatte sie mehr Zeit. Nicht für einen Kinobesuch am Wochenende, nicht für ein gemeinsames Essen am Abend und auch nicht für das Probehören meines Schulaufsatzes. Lediglich ihr dritter Lover — Hubert Krämer, das zweite Mal geschieden und schnittiger Handelsvertreter — entlockte ihrem überfüllten Terminkalender ein paar freie Stunden. Ihre Tochter jedoch fand kaum noch Platz in ihrem neuen Leben, wenn sie es denn je getan hatte, weshalb sie mich kurzerhand in ein Internat abschob.

Vor kurzem hatte sie wohl über Elite-Partner einen netten Herrn kennengelernt, der für das Internat Schloss Pauli regelmäßig schöne Summen lockermachte, da sein kleiner, snobistischer Schnösel-Nachwuchs dort die beste Ausbildung genoss. Dieses Treffen sollte nicht nur schlechtes Omen für Handelsvertreter Hubert Krämer sein, sondern ebenso für mich, wessen unfreiwillige Bewerbung dank eines Anrufs der netten, neuen Bekanntschaft meiner Mutter schon am nächsten Tag begutachtet und der Institution als würdig empfunden wurde.

Um fair zu sein, sollte ich erwähnen, dass meine leiblichen Eltern kurz nach meiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben kamen. Bitte kein Bei- oder Mitleid, ich habe die beiden nie kennengelernt und konnte sie daher auch nie wirklich betrauern oder vermissen. Das mag kalt klingen, ist aber ehrliche Realität. Andere halten solche Geschichten für Tragödien — was ich dazu sage ist, dass Tragödien zum Leben gehören und der Tod es unvermeidlich macht, dass sie jeder von uns früher oder später erlebt.

𝓑𝐮̈𝐜𝐡𝐞𝐫𝐬𝐞𝐞𝐥𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt