Seine Hand ist kalt und schwitzig. Ich zittere noch immer. Man sagt immer, dass man sich anspruchsvollen Situationen stellen soll, anstatt davor davon zulaufen, aber die eine Träne, die JJs Auge verlassen hat, sagt mir das Gegenteil. Hier ist weglaufen die bessere Option.
Ich sperre das Auto auf, öffne ihm die Beifahrertür und überlege fieberhaft, wohin ich mit ihm fahre, als ich um das Auto herumlaufe.
Ich krame mein Handy aus der Handtasche im Kofferraum und gebe „schöne Orte" in Outer Banks ein. Nach einer blitzschnellen Überlegung tippe ich auf Route und das Navi zeigt mir eine Fahrtzeit von fünfzehn Minuten an. Das ist okay.
Als ich in das Auto einsteige überkommt mich eine Tsunamiwelle an Mitleid. JJ sitzt da auf dem Beifahrersitzt wie ein Häufchen Elend, seine Fäuste sind auf das Armaturenbrett gestemmt und sein Kopf liegt auf seinen Armen. Er zittert wie Espenlaub. Weint er? Ich kann es nicht sehen, ich hoffe allerdings, dass er es tut. Emotionen rauslassen ist besser, als sie zu verdrängen.
Mit stechenden Herzen starte ich den Motor und fahre so schnell es geht weg von dem Haus.
Kein Wort fällt während der Fahrt. JJ bewegt sich keinen Millimeter.
Als wir an dem Ziel anhalten, geht die Sonne gerade über dem Meer unter. Die Klippe vor uns, die als Aussichtspunkt gilt, ist menschenleer, es ist ruhig bis auf das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen.
„JJ?", wispere ich leise, er dreht seinen Kopf zu mir.
Seine Augen sind blutrot und glasig, sein Gesicht angeschwollen.
Dann steigt er aus und geht zum Rande der Klippen. Ich weiß nicht, ob ich ihm folgen oder ob ich ihm seinen Freiraum geben soll. Hin und her gerissen bleibe ich also kurz sitzen.
Die Sonne taucht das ganze Land in ein unwirkliches rot, das Meer glitzert und wirkt wie ein See voller Blut. Der perfekte Ort, um sich seinen Gedanken hinzugeben oder gar nicht zu denken. In Kanada hatte ich einen ähnlichen Fleck, ein Felsvorsprung mitten im Wald, von dem aus man auf die Stadt blicken konnte. Man hat dort das Röhren der Hirsche gehört, das Heulen der Wölfe und sämtliche andere Tiere des Waldes. Und man konnte dort ewig sitzen, die Sterne ansehen, die Lichter der Stadt... es war wunderschön.
JJ hat sich inzwischen gesetzt. Ich beschließe, zu ihm zu kommen. Vielleicht möchte er reden.
Langsam gehe ich auf ihn zu.
„Darf ich mich zu dir setzen?", frage ich zuerst, ein kleines Nicken ist die Antwort.
JJ sitzt im Schneidersitz da und hat seine Hände in seinem Schoß liegen. Vor ihm auf dem Boden liegt ein Joint, den er kritisch betrachtet.
„Soll ich?", fragt er mich und sieht mich müde an.
„Wenn du meinst, dass dir das hilft...", antworte ich langsam.
Sein Blick wandert zurück zu dem Tütchen. Dann umspielt ein leichtes Lächeln seine Lippen.
„Ich weiß nicht, ob mir überhaupt noch etwas hilft. Das Spiel habe ich durchgespielt. Aber dieses Ding hier lässt mich den ganzen Scheiß wenigstens für ein paar Stunden vergessen."
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Also beobachte ich ihn, wie er sich den Joint anzündet, tief einatmet und den Rauch langsam wieder aus dem Mund gleiten lässt. Rauchen passt zu ihm. Ich weiß nicht wieso, aber ihm steht es ungemein gut.
„Möchtest du auch?", fragt er mich und hält mir die Tüte hin. Skeptisch sehe ich ihn an.
„Ich weiß nicht, letztes Mal hat das nicht so gut geendet."
Auf JJs Lippen schleicht sich ein Grinsen.
„Du weißt wirklich gar nichts mehr von der Nacht, oder?"
Ich schüttele den Kopf. Nein, bis auf die eine Szene an der Wand weiß ich nichts mehr. Er schmunzelt.
„Was? Du weißt doch sicher noch alles, oder? Wäre nur fair, es mir zu sagen.", schimpfe ich.
Dann lacht er tatsächlich, nimmt mein Kinn zwischen seine Finger und kommt meinem Gesicht ganz nahe. Mein Herzschlag beschleunigt sich sofort und die Schmetterlinge in meinem Bauch werden verrückt.
„Oh Darling, ich erinnere mich an alles. Jedes Detail. Jedes schmutzige, kleine Detail. Aber vielleicht bleibt das einfach mein Geheimnis."
Ich ziehe die Brauen zusammen.
„Idiot."
„Ich weiß."
Als Antwort auf seine Frechheit nehme ich ihm den Joint aus der Hand. Dieses Mal ziehe ich sehr viel langsamer daran, atme vorsichtig ein und muss zum Glück nicht husten. Zwei Mal wiederhole ich die Prozedur, reiche dem überrascht dreinblickenden JJ den Joint wieder.
„Das hätte ich nicht erwartet, kleine Kook."
Ich grinse nur.
„Wieso hasst du die Kooks eigentlich so?"
Stille.
„Sie kriegen immer, was sie wollen. Egal was passiert, sie gewinnen immer. Das nervt mich und das ist einfach nicht fair. Da kann ein Kook einen Pogue kaltblütig und aus reiner Bosheit vergewaltigen, umbringen, schänden, was auch immer und der Kook kommt davon. Jedes verdammte Mal. Völlig egal, ob es aufgezeichnet wurde, ob es Zeugen gab, der Kook gewinnt immer!"
Zum Ende seiner Rede wurde er immer wütender. Dann starrt er gedankenverloren auf das Meer hinaus, die Brauen fest zusammengezogen. Ich hab das Gefühl, dass hinter seinen Worten mehr Wahrheit steckt als nur ein Beispiel.
„Okay. Das kann man verstehen..."
Wieder antwortet er nicht. Raucht weiter. Reicht ihn mir. Auch ich ziehe noch einige Male.
„Josy?"
„Ja."
„Dich hasse ich nicht. Ich hasse es, dass du eine Kook bist und nicht eine von uns."
„Aber bin ich denn auf immer verdammt dazu, nur weil ich auf der anderen Seite der Insel lebe?"
„Nein. Ich werde schon dafür sorgen, dass du immer an unserer Seite bleibst."
Lange sagt er nichts mehr. Blickt auf das Meer. Drückt den Joint aus.
„An meiner Seite."
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kurz und knapp. ich hoffe, es gefällt euch!
liebste grüße, sabi
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What We Lost
FanfictionJosy ist neu auf den Outer Banks und stößt gleich an ihrem ersten Tag auf der Insel auf die vier Freunde Kiara, John B, Pope und JJ. Ehe sie sich versieht ist sie mittendrin in einem Netz aus Lügen, Hass und einem unausgesprochenem Krieg zwischen d...