Vielleicht

27K 1.3K 71
                                    

Der Regen fiel ohne Erbarmen auf uns hinab und ich war keine zwei Schritte weit gekommen, da war ich bereits bis auf die Socken nass. Aber das war egal. Auch das ich auf dem aufgeweichten Boden mehrmals ausrutschte. Meine Haare klebten mir auf der Stirn, aber ich achtete nicht darauf. Keuchend rannte ich der dunklen Silhouette hinterher.
Der Wind riss an meinen nassen Sachen und erschwerte das Atmen während dem Laufen.
Doch selbst wenn ich keine Luft mehr haben würde, würde ich weiter rennen. Hinter ihm her. Selbst wenn es mein Todesurteil wäre, ich würde nicht aufgeben. Seine Worte hatten etwas in mir berührt und freigesetzt. Ich wusste, ich durfte ihn jetzt nicht gehen lassen.
Es würde alles verändern.
Der Regen fühlte sich an wie feine Nadelstiche auf meiner nackten Haut, aber das war ein Preis den ich gerne zahlte. Hauptsache ich erreichte ihn. Um mich herum war alles pechschwarz. Wo war er hin? Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich die Umgebung ab, aber ich war nur ein Mensch. Ein kleiner unbedeutender Mensch. Ich hatte nicht die gleichen Fähigkeiten wie ein Schattenwesen. Ich konnte nicht sehen im Dunklen. Ich wusste ja nicht einmal wo ich war. War ich überhaupt noch auf seinem Gelände?
Dann drehte ich mich um und lief weiter. Wohin wusste ich nicht, nur dass es richtig war.
Meine Füße schmerzten aber ich trieb sie zu einem schnelleren Tempo an.
„Adrien?", rief ich verzweifelt in die schwarze Nacht hinaus.
Hektisch drehte ich mich einmal um die eigene Achse, fand ihn aber nicht.
Nach kurzer Zeit zog mich eine Ahnung weiter nach links. Mit jedem Schritt wurde das Wellenrauschen lauter. Jetzt wusste ich wieder wo ich war. Und vor allem, wo er war. Diese Strecke war ich schon einmal gerannt. Es war der Weg den ich gerannt war, als ich versucht hatte mich umzubringen. Ich wusste er würde an der gleichen Stelle stehen, wie ich damals. Nur mit dem Unterschied, dass er selbst wenn er fiel, nicht sterben würde. Es war der Fluch. Der Fluch der ihn zu dem machte, was er war.
Mit allem was noch in mir war, sprintete ich die wenigen Meter die uns trennten. Und ich sollte mich nicht getäuscht haben. Dort stand er. An der Klippe. Sein Rücken war zu mir gedreht. Aus seinen Schulterblättern ragte jeweils eine große schwarze Schwinge. In der Ferne erhellte ein Blitz den Himmel und ließ ihn in einem unheimlichen Licht dastehen. Mir stockte der Atem. Er war wunderschön.
Der Drang über seine schwarz gefiederten Flügel zu streicheln war unmenschlich groß. Er war so schön. Nicht heiß oder so etwas. Er war einfach nur unmenschlich schön. Und immer wenn ein Blitz den Himmel erleuchten ließ und Licht ihn ein wenig erhellte, dachte ich, ich müsse sterben, für das was ich hier sah.
Er machte einen Schritt nach vorne und seine Flügel bewegten sich nervös.
„Adrien!", keuchte ich leise. Meine Lungen brannten und schrien nach Luft.
Er fuhr herum. Seine schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn und tiefer Schmerz lag in seinen dunklen Augen.
„Geh!", fuhr er mich an. Aber ich dachte nicht daran.
„Nein.", sagte ich heiser und ging langsam einige Schritte auf ihn zu.
„Talia! Bitte geh! Ich will nicht, dass du mich so siehst!", fauchte er und wich nach hinten aus. Der Abhang kam immer näher.
„Es tut mir leid, okay?", versuchte ich ihn zu mir zu locken. Es war wirklich als hätten wir Rollen getauscht. Wie lange war es her, dass ich an seiner Stelle stand? Zwei Wochen? Drei? „Es tut dir leid.", lachte er heiser.
„Ja, es tut mir leid. Ich wollte keinen Kratzer in deinen Bugatti machen.", gestand ich auch wenn ich wusste, dass es eigentlich nicht darum ging. Aber immerhin hatte ich es gesagt.
Er lachte. Ehrlich dieses Mal. „Der Wagen ist mir doch egal. Talia. Ich möchte dich nur schützen! Verstehst du das nicht?", fragte er und kam einen Schritt auf mich zu. Innerlich atmete ich auf. Er war weg von der Kante.
„Vor was?", entgegnete ich und suchte in seinen Augen nach der Wahrheit. Aber vor lauter Trauer konnte ich in ihnen nichts anderes finden.
Er kam noch einen Schritt näher. Wir standen uns gegenüber. Uns trennten gerade mal zwei, drei Meter. Vielleicht auch weniger.
Er kam noch näher und ich blieb stehen. Ich wich nicht aus und bewegte mich keinen Zentimeter zurück. Meine Angst schluckte ich.
„Vor dem was ich bin.", flüsterte er und seine Worte hätten sich fast in dem Grollen des Donners über uns verloren. „Ich bin ein Monster. Eine Ausgeburt der Hölle. Ein Wesen belegt mit einem Fluch. Eine Missgeburt die das Leben nicht verdient. Die es nicht verdient dich gefunden zu haben." Seine Lippen berührten beinahe meine Stirn, so nah waren wir uns.
Ich lächelte matt. „Du bist so viel. Aber kein Monster, Adrien.", versprach ich und legte meine Hand auf seine Brust.
Er lächelte ebenfalls kurz. Schüchtern. „Mein Nam ein deinem Mund klingt wunderschön."
„Es ist ein wunderschöner Name. Gemacht für einen wunderschönen Mann.", erwiderte ich sanft und legte meine zweite Hand neben die erste. Ich wusste, dass er mich ansah, dennoch brachte ich es nicht übers Herz im in die Augen zu sehen. Ich starrte also seine Brust an. Wohlbemerkt seine nackte Brust. Meine Finger zitterten.
Wie lange wir so im Regen standen konnte ich nicht sagen. Es konnten Sekunden sein, Stunden, Tage. Es wäre mir egal gewesen.
„Warum?", wollte ich dann irgendwann wissen. Er legte seine Hände auf meine. Es war ein schöner Anblick. Seine waren gerade so groß, dass sie meine perfekt abdeckten. Als wären sie für einander geschaffen.
„Warum was?", hakte er nach und ich konnte seine Lippen an meinem Ohr fühlen. Ich schloss die Augen, bevor ich auch nur ein weiteres Wort herausbrachte.
„Warum bist du weggelaufen?"
Er lächelte gezwungen. „Ich wollte euch nicht stören. Dich und Cameron."
Jetzt blickte ich doch auf und sah direkt in seine Augen. „Mich und Cam?"
Adrien nickte. „Ihr saht so glücklich zusammen aus. Wie er dich gehalten hat. Dich angesehen hat."
„Du denkst, dass ich Cameron mehr mag als dich?", fasste ich seine Sätze erschreckt zusammen. Wie kam er denn auf so etwas?
„Ich weiß nicht was ich denke. Immer wenn du in meiner Nähe bist ist es so, als setzt mein Kopf total aus. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle und genau das macht es für dich so gefährlich. Ich will dich nicht verletzten.", gestand er und strich mir mit dem Daumen einige Regentropfen aus dem Gesicht. Eine kindische Geste, immerhin standen wir mitten in einem Gewitter, aber es war eine Geste die so viel aussagte.
Dann schien ihm etwas einzufallen und kurz darauf wurde der Regen weniger. Verwirrt schaute ich nach oben. Anstatt des schwarzen Himmels entdeckte ich seine schwarzen Schwingen, die er wie ein Dach über uns gelegt hatte.
„Du wirst mich nicht verletzten." Dessen war ich mir sicher.
„Ich bin nicht wie Cam. Cam ist nicht wie ich. Er hat diese Dinger...", sagte er voll Hass und starrte auf seine Schwingen „... nicht. Er ist fast so wie du. Ich habe euch gesehen. Gehört. Du sahst so glücklich aus mit ihm. Das werde ich dir niemals geben können. Niemals. Weil dieser Fluch auf mir liegt. Hervorgerufen von meinem eigenen Egoismus. Du und Cam... Das ist wie... Ach ich weiß auch nicht. Ich wünschte ich wäre eines kleines bisschen mehr wie er. Es wäre leichter mich zu mögen. Mich zu lieben. Aber so hinter dieser abstoßenden Maske."
„Das denkst du?", fragte ich leise. Entsetzt. „Du denkst ich würde Cam lieben? Ihn mehr mögen als dich? Dann kennst du mich doch schlechter als ich dachte." Meine Augen hingen in seinen und ich hatte keine Chance einen Weg hinaus zu finden. So wunderschön waren sie.
„Nein. Es... Ich weiß es nicht. Es ist kompliziert.", seufzte er verwirrt und strich sich durch die nassen Haare.
„Dann erklär es mir.", forderte ich ihn auf und blinzelte.
„Das kann ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal was ich fühle. Oder wie ich damit umgehen soll. Ich sehe immer nur dich und Cam und weiß dass du glücklich bei ihm bist. Und ich möchte dass du glücklich bist.", gab er zu und ich dachte mein Herz würde aus meiner Brust springen. So beflügelt war ich von seinen Worten.
„Ich mache dir ein Angebot.", schlug ich nach einiger Zeit vor.
Amüsiert blickte er mich an. Da war er wieder. Der alte Adrien der alles leicht belustigt aufnahm und der mir eigentlich auf die Nerven ging. Aber in diesem Moment war ich echt froh, dass er dieses amüsierte Gesicht zeigte. Es zeigte mir dass es ihm gut oder zumindest besser ging.
„Bis du dir darüber klar bist, was du fühlst und wie du damit umgehen sollst, verhandeln wir über einen Waffenstillstand, okay?" Ich lächelte ihm aufrichtig zu. Es wäre außerdem ein Vorteil für mich. Da es mir ja nicht anders ging. Ich wusste auch nicht was ich für ihn fühlte. Und ein Waffenstillstand würde uns beiden gut tun. Vielleicht könnten wir uns sogar näher kennenlernen und von vorne anfangen. Man wusste nie was passieren könnte.
Eine, zwei Minuten sah er mich nur überrascht an und hatte offenbar keinen blassen Schimmer wie er reagieren sollte. Nochmal so ganz am Rande bemerkt: Ich stand mitten in der Nacht geschützt von Schattenschwingen in einem Gewitter und verhandelte mit Adrien de Manincor über einen Waffenstillstand.
Ja, ich war definitiv verrückt geworden.
Aber wenn der Wahnsinn so aussah, dann war ich gerne verrückt.
Ich blickte zu ihm. Er lächelte mich an. Warum lächelte er?
„Aber jetzt würde ich gerne ins Bett, wenn du nichts dagegen hast. Denn ich für meinen Teil bin menschlich und brauche meinen Schlaf, denn sonst wird das mit dem Waffenstillstand morgen nichts.", warnte ich schon einmal vor und lächelte zu ihm auf.
Er hielt es noch immer nicht für nötig etwas zu sagen. Also zog ich eine Augenbraue in die Stirn und fragte ihn ob er noch lebte und oh Wunder, er antwortete.
„Ja, ich lebe noch. Traust du dir denn zu wieder in deinem Zimmer zu schlafen?", fragte er mitfühlend und sofort kroch das Bild mit dem geronnen Blut auf dem Boden wieder vor meinem inneren Auge empor.
„Ich werde es schon schaffen.", versicherte ich nachdem ich tief eingeatmet hatte. Besorgt sah er mich an. „Es wird schon gehen."
Richtig überzeugt sah er nicht aus.
„Du kannst bei mir schlafen.", bot er dann an. Und um ehrlich zu sein, war ich froh darüber. Ich wollte nicht in diesem Zimmer schlafen, zumindest solange es so aussah wie im Moment.
„Wirklich?" Mit großen Augen blickte ich ihn zweifelnd an. Er war immerhin noch Adrien de Manincor.
„Ich will dir keine Umstände machen.", ergänzte ich.
„Machst du nicht.", versicherte er. „Es ist schön dir beim Schlafen zuzusehen. Ich habe solange Zeit nicht mehr richtig geschlafen. Es ist... entspannend."
„Du siehst mir dabei zu?" Meine Stimme war eine Oktave höher als sonst. Ich wusste ich redete im Schlaf und war nicht unbedingt scharf darauf, ihm nachts meine ganzen Geheimnisse anzuvertrauen.
„Ja. Du siehst sehr friedlich aus. Als könnte niemand dir etwas anhaben. Als wärst du unbesiegbar.", bestätigte er und lächelte.
„Aha.", piepste ich hell.
Er hielt mir die Hand entgegen. „Darf ich die junge Dame zurück ins Haus begleiten?"
„Sehr gerne.", lächelte ich und nahm sie. Gemeinsam gingen wir zurück in Richtung Haus.
Es war das erste Mal, dass ich unter einem geflügelten Dach lief und wenn Adrien mich fragen würde, würde ich es sofort nochmal machen.
Seine Hand lag warm in meiner und gab mir Kraft. Vielleicht würde es hier doch gar nicht so schlimm werden. Vielleicht konnten Adrien und ich doch noch Freunde werden. Vielleicht sogar mehr. Die Zukunft würde einen Weg für mich bereithalten und mich auf den
Weg schicken, wenn sie die Zeit für gekommen hielt.
Vielleicht würde ich diesen Weg gar nicht alleine gehen müssen.
Vielleicht würde mich jemand begleiten und mir den Rücken freihalten.
Vielleicht würde dieser jemand Adrien de Manincor sein.

Schwingen der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt