"Wow. Das ist... Wow... Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Ich meine, meine Zeit ist begrenzt. Ich werde nicht ewig leben können. Euer Verständnis von Zeit ist ein ganz anderes als meins. Es muss doch ein irres Gefühl sein, wenn man weiß, dass man genug Zeit hat um sich die ganze Welt anzusehen.", sagte ich und versuchte den kleinen Keim der Enttäuschung dabei gleich zu ignorieren. Mir war es nicht bestimmt länger zu leben. Ich würde nicht zusehen können, wie meine Welt sich veränderte. Und um ehrlich zu sein, beschäftigte mich diese Tatsache ziemlich.
Jake lachte ein wenig. "Ich war am Anfang genauso. Total euphorisch und heiß darauf, mir alles anzusehen. Aber dieses Hochgefühl hält nicht lange. Ein Jahrhundert. Zwei Maximal. Die Ewigkeit ist eine lange Zeit. Vor allem wenn man dazu verdammt ist, alleine zu sein."
Waren das Tränen in seinen Augen? Vorsichtig sah ich genauer hin. Tatsächlich waren dort Tränen in Jakes Augen und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
"Du warst verliebt.", stellte ich fest und beobachtete ganz genau wie sein Blick ertappt vom Fenster zu mir zuckte.
Einige Minuten sah er mich nur schweigend an und ich dachte schon, dass er gleich aufspringen und mich rausschmeißen würde.
Aber dann sah er zu Boden und schluckte. "Ja, du hast Recht.", sagte er mit belegter Stimme und knetete seine Finger.
Als seine Augen mich danach wieder streiften, sah ich all die Schmerzen. All die unausgesprochenen Worte. Die Sehnsüchte. Die Qual.
"Ich... Entschuldige bitte. Das war ein blöder Spruch. Ich... sollte besser gehen.", stotterte ich und stand auf. Ich wollte keine alte Wunde aufreißen und ihn daran erinnern was er war.
"Nein. Bitte bleib. Es ist... okay. Ich kann ja nicht ewig schweigen. Und du kannst eh nichts dafür. Das ist meine Vergangenheit. Du hast nur das offensichtliche ausgesprochen.", beruhigte Jake mich und bat mich, mich neben ihn zu setzten.
Bedächtig ging ich zu ihm und setzte mich ihm gegenüber.
"Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.", versicherte ich ihm und tätschelte liebevoll sein Knie.
"Ich möchte aber.", meinte er entschlossen.
Er holte tief Luft und blinzelte kurz.
"Sie hieß Isabelle. Und sie war das schönste Wesen, dass mir jemals begegnet ist. Sie hatte lange Haare, mit leichten Wellen und wenn Sonnenlicht darauf schien, hatte es die Farbe von glänzenden Kastanien.", begann er und ich konnte sehen wie seine Augen ein Funkeln bekamen. "Sie... Sie war umwerfend. Frech, selbstbewusst und mit einem Weltverbesserergen geboren. Sie hasste Ungerechtigkeit und setzte sich dafür ein, dass die Welt ein kleines bisschen fairer wurde. Sicherlich hätte sie es auch weit geschafft, wenn so ein dummer Idiot ihr nicht viel zu früh das Herz gebrochen hätte. Als ich sie das erste Mal sah, kam sie in unser Gasthaus gerannt und lief mir praktisch direkt in die Arme. Mein Vater war Gastronom, wie man heute sagen würde und unserer Familie gehörte ein Gasthof in der Stadt. Tja und eines schönen Tages ging die Türe auf und sie kam hereingestürmt. Ich war gerade dabei die Tische zu säubern und dann stand sie auf einmal vor mir. Sie flehte mich an, ihr zu helfen. Sie sei auf der Flucht vor ihren Brüdern und hätte keine Lust sich ihnen zu stellen und ich müsse sie verstecken und... naja. Mehr brauchte es nicht. Mich hatte es erwischt. Du hättest sie sehen müssen. Sie trug eine Stoffhose, sehr unschicklich für die damalige Zeit, ein weites Oberteil und Reiterstiefel. Ihre Haare hatte sie zu einem losen Zopf gebunden und einzelne Strähnen hingen heraus und rahmten wild ihr wunderschönes Gesicht ein. Nachdem ich mich aus meiner Schockstarre lösen konnte, nahm ich ihre Hand und wir schlichen uns auf den Speicher und von dort aus aufs Dach. Atemlos versteckten wir uns einige Zeit dort. Bis es schließlich anfing zu dämmern und sie der Meinung war, sie müsse gehen. Ich führte sie zum Hinterausgang und bevor sie in der Nacht verschwand küsste sie mich. Ganz leicht nur, auf die Lippen." Er lachte und es war nicht zu übersehen wie glücklich ihn diese Erinnerung machte.
Ich lächelte einfach nur und ließ ihn weiter in seinen Erinnerungen schwelgen. Es schien ihm gut zu tun, darüber zu reden. Und ich war schon früh ein Fan von Geschichten dieser Art. So hatten wir wohl beide etwas davon.
"Danach habe ich einige Zeit nichts mehr von ihr gesehen. In den ersten Tagen danach, fühlte ich mich, als könnte ich die ganze Welt bezwingen. So glücklich war ich. Aber als ich sie nach knapp einer Woche immer noch nicht wiedergesehen hatte, war ich dem Selbstmord nahe. Ich fühlte mich leer und einsam. Irgendwie verlassen. Es war komisch. Doch dann, es war ein normaler Samstagabend, öffnete sich die Tür und eine der angesehensten Familien der Stadt trat ein. Als erstes die beiden Ältesten Jungs. Ein bisschen älter als ich. Matthew and James Morrison. Du musst wissen ich bin in England aufgewachsen. Daher die Namen. Hinter den beiden kamen ihre Eltern. Sie baten um einen Tisch und ich wies ihnen unseren besten Platz zu. Allerdings hatte ich die letzte Person übersehen. Sie war hinter ihrem Vater gegangen und als unsere Blicke sich trafen, erstarrte ich. Sie lächelte. Nur ein kleines bisschen. Und ich sah die Freude in ihren einmaligen Augen. Da war sie wieder. Das Mädchen in das ich mich verliebt hatte. Ihr Vater bemerkte meinen Blick und kam auf mich zu. >Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen, Mister Williams.< und dann wandte er sich ihr zu und streckte seine Hand aus. >Isabelle. Kennst du bereits Mister Williams.< Ihr Blick wanderte zwischen uns umher, ehe sie knickste und verneinte. >Nein, ich glaube diese Freude ist mir noch nicht zuteil geworden.<, sagte sie und ich hauchte ihr einen Kuss auf die Hand. Ihre Stimme war weich wie Honig. Naja um es auf den Punkt zu bringen: Ich war verliebt. Wir trafen uns heimlich. Immer wieder und immer länger. Doch mein Glück wurde zerstört durch ein Feuer. Meine Familie starb. Meine Mutter. Mein Vater. Mein kleiner Bruder. Ich hätte auch in dem Feuer umkommen sollen. Aber stattdessen war ich in dieser Nacht bei Isa und habe mich anderweitig beschäftigt. Als ich nach Hause kam - oder zu dem Rest davon - war ich traurig und wütend. Wütend auf mich selber. Wütend darauf, dass ich bei ihr war und nicht bei meiner Familie. Isa kam zu mir, sobald sie erfahren hatte, was passiert war. Sie versprach mir, wir würden das zusammen durchstehen und da hab ich sie angeschrien, dass ich alleine wäre und niemand mir helfen könnte. In meiner Wut habe ich nicht gemerkt wie sehr meine Worte sie verletzten. Aber ich war so sauer und so ein Idiot. Sie war da hat mir die Hand gereicht und ich stieß sie weg. Hab sie in meiner blinden Verzweiflung nicht gesehen. Habe nicht gesehen, das sie nun meine Zukunft war. Ich war so dumm. So unglaublich dumm. Erst als ich ihre Tränen sah, wusste ich was ich getan hatte. Aber da war es schon zu spät und so beschloss ich fortzugehen. Weit weg. Um den letzten Menschen, den ich liebte nicht noch mehr zu verletzen. Wenige Wochen später kam ich zurück. Ohne sie konnte ich nicht leben. Ich brauchte sie. Und ich wusste ich musste mich entschuldigen, dafür, dass ich ihre Liebe und Unschuld gestohlen und zerstört hatte. Doch auch hier kam ich wieder zu spät. Sie war tot. Sie ist vom Dach ihres Hauses gesprungen. Und das wegen mir! Ihr Vater gab mir einen Umschlag mit meinem Namen darauf. Ich öffnete ihn. Darin waren fünf Wörter: Gib mir mein Herz zurück! Ein so simpler Satz. So unbedeutend eigentlich. Und doch... sagte er so viel. Und so floh ich wieder einmal. Adrien fand mich. Betrunken in einer Gasse nahe London. Tja und so wurde ich zu einem dieser Wesen." Mit diesem Satz beendete er seinen Bericht und zeigte mit einem müden Lächeln an sich hinab.
Seine Geschichte war bewegend und hatte wirklich das Zeug zu einem Bestseller, wenn jemand auf die Idee kommen sollte sie zu veröffentlichen.
"Wow. Das klingt nicht gerade nach dem leichtesten Lebensweg.", meinte ich nur und sah ihn an. Der Schmerz wich allmählich aus seinen Augen und verblasste. Genauso wie die Erinnerungen die er mir erzählt hatte.
"Ja, es war nicht immer einfach.", murmelte er und lächelte traurig. Dann seufzte er und schüttelte den Kopf.
"Entschuldige. Es sind nur alte Gefühle, die gerade wieder hochkommen. Nichts weltbewegendes.", winkte er ab.
"Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?", fragte ich und sah ihn aufmunternd an.
"Ja. Danke fürs Zuhören. Hat gut getan mal wieder darüber zu reden.", versicherte er und lächelte zurück. Seine Geschichte war wirklich beeindruckend, aber da war eine Frage, die mich die ganze Zeit schon beschäftigte.
"Hey, das war absolut kein Problem. Ich muss dir für dein Vertrauen danken, aber eine Frage hätte ich da noch...", sagte ich und blickte ihn ernst an.
"Klar. Schieß los.", forderte er mich auf.
"Okay. Ähm... Also du hast jetzt zwei Mal betont, dass Adrien dich und Rafael verwandelt hat. Aber wie funktioniert das? Ich meine, Adrien wird ja wohl kaum sagen: Ene mene mesen aus dem Menschlein wird jetzt ein Flügelwesen. Also, zumindest will ich das mal schwer hoffen.", lachte ich.
Jakes Blick wurde hart und er sah mich komisch an.
Und da wusste ich, dass ich die eine Frage gestellt hatte, die ich nicht hätte fragen sollen.
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Schwingen der Nacht
FantasyTalia ist ein 19-jähriges Mädchen, dass ihr Leben in vollen Zügen genießt. An das Gerücht, dass in ihrer Stadt rumgeht glaubt sie nicht wirklich. Darin heißt es, dass jeden Vollmond ein geflügeltes Wesen von unmenschlicher Schönheit in ihrer Stadt...