Den restlichen Tag verbrachten wir damit, das Haus zu putzen und es mit den gekauften Möbeln, die Jake in der Garage angesammelt hatte zu bestücken.
Als wir fertig waren musste ich gestehen, dass ich mich in die alten Mauern verliebt hatte. Sie versprühten diesen einmaligen Altbauflair und das machte es zu etwas ganz besonderem.
"Puhh! Endlich fertig!", stöhnte Jake und ließ sich auf die Couch fallen, die er vor wenigen Sekunden noch unruhig durch den Raum geschoben hatte.
Erschöpft ließ ich mich neben ihm nieder und lehnte meinen Kopf auf seine Schulter.
Einige Minuten sahen wir einfach nur durch die Glasfront hinaus ins Freie. Wir hatten das Sofa so gestellt, dass man wenn man darauf saß einen guten Blick in den Garten hatte. Davor stand ein flacher dunkler Tisch und an der Wand schräg gegenüber hatten wir den Fernseher montiert.
Das Wohnzimmer war auf zwei Ebenen gebaut worden. Auf der oberen befand sich die moderne Küche die im Gegensatz zu dem Alter des Hauses stand. Zwei kleine Treppen durchkreuzten das komplette Zimmer und führten den Besucher hinunter in den Wohnbereich. Es gefiel mir ausgesprochen gut.
"Kannst du aber laut sagen.", stimmte ich ihm zu und stellte fest, dass seine Schulter wirklich bequem war.
"Aber es gefällt dir, oder?", wollte Jake wissen und richtete sich ein wenig auf.
"Sehr gut sogar.", meinte ich. "Aber es ist dein Haus. In erster Linie sollte es dir gefallen."
Jake küsste mich auf den Scheitel. "Es ist unser Haus."
Ich lächelte. Ein Leben ohne ihn konnte ich mir schon gar nicht mehr vorstellen. Korrigiere: Ich WOLLTE mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.
"Das heißt wohl, dass wir ein bisschen länger hier bleiben, schätze ich.", riet ich und rappelte mich auf. Auch wenn es mir nicht gefiel meinen Kopf von Jakes weicher Schulter zu heben.
Jake sah mich an. "Ich weiß es nicht." Er beugte sich vor und fuhr mit den Händen sein Gesicht. Er sah ziemlich fertig aus, um ehrlich zu sein.
"Hast du noch immer nichts von ihm gehört?", fragte ich und hoffte, dass endlich eine Nachricht von Adrien gab. Ich vermisste ihn doch sehr. Auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte.
Jake seufzte, stand auf und schlenderte rüber an das ebenerdige Fenster.
Seine Reaktion war mir Antwort genug.
Enttäuscht ließ ich mich nach hinten in die Kissen fallen. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Verdammt, wo steckte er?
Ja, ich machte mir Sorgen. Ich machte mir ungeheuer große Sorgen.
Es konnte einfach nicht sein, dass ein Adrien DeManincor mal eben wie vom Erboden verschluckt war!
All meine Sorgen um ihn formten sich zu einem großen Knäul in mir zusammen.
"Glaubst du ihm ist etwas passiert?", stellte ich Jake leise die Frage, die ich ihm ständig stellte.
Langsam drehte er sich zu mir und lehnte sich gegen das Glas in seinem Rücken. "Ich hoffe mal nicht."
Tja, das war die Antwort die Jake mir jedes Mal gab. Aber er hatte ja Recht: Außer hoffen und beten konnten wir nichts machen.
Wenn wir ihn suchen würden, könnten wir uns selber in Gefahr bringen und das war mit Sicherheit nicht in Adriens Interesse.
Ach was redete ich denn da? Seit wann interessierte mich Adriens Meinung?
Und da fiel mir die Antwort schmerzhaft wieder ein: Seit ich mich in ihn verliebt hatte.
Ich stieß einen ungeduldigen Laut aus, raufte mir die Haare und stand auf.
"Ich drehe durch, wenn wir nichts unternehmen.", warnte ich und sah Jake hilflos an.
Aber dieser war mindestens genauso verzweifelt wie ich.
"Ich ja auch.", meinte er und ballte die Hände zu Fäusten. "Aber ich tue schon was ich kann. Ich habe die Anderen angefunkt und bis jetzt nur eine Antwort bekommen und die bringt uns nicht viel."
Ich verzog das Gesicht in der Hoffnung man würde mir meine Enttäuschung nicht allzu sehr ansehen.
"Mein Kontaktmann hat nur gesagt, dass Adrien die Seelen freigegeben hat.", erzählte er.
Ich brauchte ein paar Sekunden bis ich begriff, was Jake damit meinte.
Aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
"Willst du mir gerade sagen, dass alle Gefallenen... tot sind?" Ich schluckte und legte mir die Hand auf die Brust.
"Sie sind frei.", sagte er tadelnd. "Wenn man so lange lebt wie manche von uns, ist man frei. Nicht tot. Tot ist gleich so endgültig. Frei klingt schöner. Wir sind befreit von unseren Schulden und Sünden."
"Du klingst wie der Pfarrer in meinem Schulgottesdienst früher.", kommentierte ich und schüttelte den Kopf.
"Geh mir weg mit diesen Kirchendienern.", winkte er ab und ein kleines Lächeln verschönerte seine Lippen.
Auch wenn wir scherzten, war unser Gesprächsthema alles andere als lustig. Denn das hieß, dass der Wachmann der mich nach Hilfe angefleht hatte, tot war. Und er war mit Sicherheit nicht der Einzige. Unwillkürlich spielte sich vor meinem inneren Augen wieder der Film ab, wie er die Hand hob und sein angsterfüllter Blick mich durchbohrte.
Sofort fing ich an meine Hände unruhig aneinander zu reiben und daran zu kratzen. Warum ich das seit neuestem immer tat, wusste ich nicht. Wahrscheinlich war das die Art wie mein Körper auf das Erlebte reagierte und es verarbeitete.
"Alles in Ordnung?", fragte Jake und kam ein paar Schritte auf mich zu. Sorge war in seinen Augen zu lesen.
Schnell verdrängte ich die Erinnerung und die Tränen und lächelte. Allerdings nicht sehr überzeugend.
"Es geht mir gut.", beruhigte ich ihn und schluckte. Es war eine Lüge und das wussten wir beide. "Warum fragst du?"
"Du machst schon wieder das mit deinen Fingern.", erklärte er und deutete auf meine Hände. Kurz sah ich ebenfalls darauf und erschrak ein wenig, als ich sah wie rot und gereizt meine Haut bereits war.
Rasch löste ich meine Hände von einander und steckte sie in meine Hosentasche. "Es ist nichts. Ich...", begann ich und wusste selber nicht was ich genau sagen sollte. Es gab momentan so viel, dass mich bedrückte. Aber darüber wollte ich nicht mit ihm reden. Er machte sich auch so schon genug Sorgen. Da musste er sich nicht noch über mich den Kopf zerbrechen.
"Ich habe nur Angst.", erklärte ich dann wahrheitsgemäß.
Als Jake die Tränen sah, die erneut in meine Augen stiegen, war er sofort bei mir und nahm mich in den Arm.
"Ist schon okay.", flüsterte er und strich mir beruhigend übers Haar.
"Ich weiß auch nicht. Ich habe Angst, dass Adrien etwas passiert ist. Ich habe Angst, dass wir das hier nicht schaffen. Das... Das ich dich verlieren könnte. Das Cam nie wieder der Cam wird, der er mal war. Das ich nicht stark genug für all dies bin.", schluchzte ich, während die ersten Tränen über mein Gesicht kullerten.
Jake lachte sein kehliges Lachen und drückte mich noch enger an seine Brust. Er hielt mich einfach nur fest, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Dann hielt er mich etwas von sich weg und strich mir mit dem Daumen die letzten Tränen fort.
"Besser?", wollte er wissen und lächelte mich aufmunternd an.
Ich nickte und fuhr mir übers Gesicht.
"Entschuldige." Behutsam wischte ich mir über die Augen.
"Ist schon okay. Was raus muss, muss raus.", sagte er und drückte mich nochmal kurz an sich. "Und glaub mir eins: Wir schaffen das. Du schaffst das alles. Du bist stark genug."
"Okay.", meinte ich stimmlos und nicht wirklich überzeugt.
"Okay.", erwiderte er und sah mich noch einen Moment an. Offenbar wollte er noch etwas sagen, entschied sich letztlich aber dagegen und schüttelte nur den Kopf.
"Ich verspreche dir, ich tue was ich kann um Adrien zu finden. Auch wenn ich damit eigentlich gegen seine Befehle verstoße.", erklärte er und fuhr sich erneut durch die Haare. "Etwas andres kann ich nicht machen. Wenn ich eins weiß: Dann dass er dich finden wird. Er liebt dich zu sehr um dich kampflos gehen zu lassen."
Bei seinen Worten hätte ich fast wieder angefangen zu weinen. Aber schlussendlich schaffte ich es doch, mich zusammenzureißen und einfach nur tapfer zu nicken.
"Danke.", flüsterte ich heiser und lächelte ihn matt an. Was würde ich nur ohne Jake machen?
"Jederzeit wieder.", versicherte er und scheuchte mich danach nach oben. Vorher drückte er mir noch einen Karton in die Hand und sagte, ich solle es mir oben ein bisschen heimlicher machen.
Danach sollte ich mich duschen und fertig machen für den Abend, er würde in der Zeit einkaufen gehen.
"Ich gehe aber nur, wenn du dich gut genug fühlst um alleine zu bleiben.", meinte er und zog seine Jacke über.
"Es geht mir besser.", versprach ich und beobachtete wie er seine Sachen zusammensammelte.
"Okay. Dann noch etwas: Lass niemanden rein. Geh nicht raus und hau nicht ab.", zählte er auf. Und erst da wurden mir meine Möglichkeiten bewusst. Ich könnte weglaufen und keiner würde etwas bemerken.
Doch wollte ich überhaupt noch weg hier? Eigentlich nicht. Ich hatte hier alles was ich brauchte und außerdem würde ich Jake vermissen. Und Adrien. Sie würden mir beide fehlen.
Damit wäre das ja geklärt...
"Gut. Ich brauche nicht lange.", behauptete er und war schon fast aus der Tür raus. Dann fiel ihm wohl etwas ein, denn er schloss die Haustüre wieder ein Stück, nahm etwas aus seiner Hosentasche und drückte es mir in die Hand.
"Das ist meins. Wenn irgendetwas ist und mag es dir noch so unwichtig erscheinen, rufst du mich sofort an. Ich hab mein zweites dabei. Denk nicht einmal daran jemanden anderen anzurufen. Alle Anrufe die du mit diesem Handy machst, werden auch mir angezeigt. Also vergiss es gleich wieder.", wischte er den kleinen Funken Hoffnung sofort wieder fort. Ich hätte meine Familie anrufen können.
"Es tut mir leid." Ich wusste dass er es ernst meinte und das bedeutete mir mehr als alles andere. Er wusste wie es war, seine Familie zu vermissen.
"Also dann bin ich jetzt mal weg. Pass auf dich auf und bau keinen Mist. Ich vertraue dir.", sagte er, küsste mich kurz auf die Stirn und keine Sekunde später, knallte die Türe laut in die Angeln.
Wow. Ich war alleine. Seit... keine Ahnung.
Für ein paar Minuten blieb ich einfach mit dem Karton in der Hand im leeren Flur stehen und genoß die Ruhe. Es war herrlich.
Aber es verängstigte mich zugleich auch.
Schnell schluckte ich meine Bedenken und marschierte in mein Zimmer. Dort angekommen warf ich zuerst einen Blick in die Kiste und stellte fest, dass neben ein paar Herrenkleidungsstücken, die schwer nach Jake aussahen, auch ein paar andere Sachen darin waren. Ein neuer IPod auf dem sich komischerweise die selben Titel wie auf meinem Alten zu finden waren, Kopfhörer und anderer Zeug mit dem Jake mir wohl einen Gefallen tun wollte.
Ich verdrehte die Augen, als ich mir die Kleidung näher ansah und stellte fest, es war tatsächlich alte von ihm.
Nun gut. Fürs Erste müsste es reichen. Hauptsache ich kam erstmal aus den alten Sachen raus.
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Schwingen der Nacht
FantasyTalia ist ein 19-jähriges Mädchen, dass ihr Leben in vollen Zügen genießt. An das Gerücht, dass in ihrer Stadt rumgeht glaubt sie nicht wirklich. Darin heißt es, dass jeden Vollmond ein geflügeltes Wesen von unmenschlicher Schönheit in ihrer Stadt...