Langsam ließ ich den Brief auf meine Beine sinken und versuchte zu realisieren, was da gerade passierte.
Ein leises Schluchzen entschlüpfte meinen Lippen. Ich musste träumen. Das war ein Traum. Nur ein Traum. Wahrscheinlich würde ich gleich zu Hause in meinem Bett aufwachen und Cassy und ihre Partys verfluchen, während ich mich auf die Suche nach einem Aspirin mache. Genau! So musste es sein! Anders ging es gar nicht!
Doch das Papier zwischen meinen Fingern fühlte sich überraschend echt an. Ebenso dieses komische Gefühl in meinem Inneren.
Es fühlte sich an, als würde ich gleich zusammenbrechen. Irgendwie taub und gleichzeitig hochsensibel.
Eine Träne die mit einem lauten Platschen auf das Papier tropfte, riss mich schließlich aus meiner Starre.
Ich fluchte leise, als ich sah wie die Flüssigkeit sich auf dem weißen Brief verteilte und drohte die Tinte aufzulösen. Schnell tupfte ich mit dem Ärmel auf den dunklen Fleck und verhinderte, dass die Träne sich ausbreitete.
Erleichtert atmete ich auf und fuhr mir durch die Haare. Danach legte ich den Brief behutsam neben das ungeöffnete blaue Kästchen in dem sich Adrien zufolge ein Ring befinden müsste. Doch ich war noch nicht bereit hineinzusehen und eine Entscheidung zu treffen.
Also stand ich langsam auf und entfernte mich ein paar Schritte von meinem Bett. Meine noch immer zitternden Hände vergrub ich tief in den Hosentaschen, als ich zum Fenster ging und hinaussah.
Ich sah genau auf den Wald von dem Adrien in seinem Brief gesprochen hatte. Und mit einem Mal brach die Realität über mich hinein.
Unaufhaltsam begann ich zu weinen und sank mit dem Rücken an der Wand hinab. Ich barg das Gesicht in den Händen und schüttelte immer und immer wieder den Kopf.
Das konnte doch alles einfach wahr sein!
Meine Brust hob und senkte sich schmerzhaft und da wusste ich, von was für einem Loch Adrien geschrieben hatte. Genau dieses dunkle Loch, das sich gerade in meinem Herzen ausbreitete.
Ich wusste nicht lange ich einfach an dieser Stelle verharrte und versuchte meinen Atem und damit den Schmerz unter Kontrolle zu kriegen. Aber es dauerte lange.
Als ich mich schließlich mehr oder weniger wieder zusammengerissen hatte, kämpfte ich mich hoch und durchquerte mit unsicheren Schritten das Zimmer, bis ich vor dem Brief und der kleinen Box stand.
Adrien hatte gesagt, er würde mich gehen lassen, wenn ich seinen Antrag ablehnte. Ich könnte an einem Ort ganz weit entfernt von hier von vorne anfangen und die Person sein, die ich schon immer sein wollte.
Das alles könnte ich vergessen. Die Schattenengel. Die Angst. Nassim. Cam. Rafael. Jake. Und Adrien.
Adrien. Ich musste nur an ihn denken und schon tauchte sein Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Unwillkürlich lächelte ich bei der Erinnerung wie wir beide draußen in seinem Haus am Strand durch das Gewitter gerannt waren.
Ich erinnerte mich an seinen Atem auf meiner Haut. An den Geschmack seiner Lippen. An alles.
Da wusste ich, dass ein Leben ohne ihn für mich nicht in Frage kam.
Wie sollte ich ihn und all das hier, vergessen? Das würde niemals klappen. Selbst wenn ich irgendwann bereit für eine neue Beziehung sein sollte, so wusste ich doch, dass ich immer nur vergleichen würde.
Keiner könnte jemals Adriens Platz einnehmen. Dafür hatte dieser Idiot sich schon viel zu lange in mein Herz geschlichen.
Und ich war nicht gewollt, ihn wieder daraus zu vertreiben. Mit Sicherheit nicht.
„Du bist so ein Vollidiot.", flüsterte ich und schüttelte den Kopf.
Aber er war der Vollidiot für den mein Herz schlug, gestand ich mir ein und griff mit klopfendem Herzen nach dem kleinen Kästchen.
Wenn ich das jetzt tat, gab es kein Zurück mehr. Dessen war ich mir sehr wohl bewusst.
Ich schloss die Augen und öffnete die Augen. Jetzt musste ich also meine Entscheidung treffen. Egal was für Folgen, dass haben würde.„Hi.", sagte ich leise und Jake fuhr zu mir herum. Er hatte an der Arbeitsplatte gestanden und auf seinem Handy herumgetippt.
„Hey.", entgegnete er überrascht und sein Blick suchte meine Hände. Offenbar wollte er wissen, ob ich den Ring trug. Natürlich wollte er es wissen...
Aber er konnte nichts sehen, da ich meine Hände wieder tief in die Taschen gesteckt hatte. Bevor ich runtergegangen war, hatte ich mich umgezogen und fertig gemacht. Ich hatte etwas normales tun müssen, um meine Gedanken zu ordnen und mich zu beruhigen.
„Wie geht's dir?", fragte er, legte sein Handy weg und kam auf mich zu.
„Ging schon mal besser.", antwortete ich wahrheitsgemäß und seufzte.
„Hast du den Brief gelesen?" Seine Stimme war gedämpft und ich sah etwas in seinen Augen, dass Sorge glich. Hatte er etwa Angst, dass ich nein gesagt haben könnte?
Denn wenn ich ablehnte, so würde ich auch ihn verlieren. In einem neuen Leben, durfte nichts aus meiner Vergangenheit mit mir kommen. Auch Jake nicht.
„Hab ich.", erklärte ich nur und verdrängte ein paar Tränen als ich an Adriens Worte dachte. Das was er geschrieben hatte war so wunderschön und hatte mich tief berührt.
„Und?", wollte er wissen und versuchte nicht ganz so ungeduldig zu wirken. Aber ich ließ mich von seinem ruhigen Äußeren nicht täuschen. In seinem Inneren war er bestimmt total aufgeregt. Aber ich konnte es ihm ja nicht einmal verübeln.
„Ich wünschte er wäre hier, damit ich es ihm selber sagen könnte.", meinte ich leise und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Als Jake dabei den silbernen Ring an meinem Finger sah, reckte er die Fäuste triumphierend in die Höhe.
„Yes!", rief er und rannte mich beinahe um, nur um mich dann hochzuheben und wild durch die Luft zu wirbeln.
Ich schrie überrascht auf und klammerte mich an ihm fest. „Lass mich runter.", lachte ich und schlug ihm spielerisch auf die Schulter.
Er setzte mich ab und umarmte mich noch einmal stürmisch, ehe er mich freigab. Sein Grinsen reichte von einem Ohr bis zum anderen.
„Ich kann nicht fassen, dass du ja gesagt hast.", sagte er ungläubig und strahlte mich an.
„Adrien kann sehr überzeugend sein.", lächelte ich nur und ließ mich auf die Couch fallen.
„Oh ja.", pflichtete Jake mir bei. „Das kann er."
Er drückte mir eine Tasse in die Hand und ließ sich dann neben mir nieder.
„Chai-Tea.", erklärte er auf meinen fragenden Blick hin nur, während ich begeistert die Augen aufriss.
„Ich weiß ja, dass du den gerne trinkst.", erklärte er und lächelte.
„Danke.", hauchte ich und nippte an dem heißen Getränk.
Danach herrschte eine angenehme Stille zwischen uns, während wir einfach nur hinaus in den Garten sahen. Der Himmel war finster und es war relativ windig.
Ich blickte auf den Ring an meinem Finger und lächelte. Es war ein gutes Gefühl. Das Silber war ganz fein gearbeitet und matt gebürstet. Ein kleiner weißer Edelstein war darin eingearbeitet und blitze mir entgegen. Es war ein wunderschönes Schmuckstück.
„Warum hast du dich dafür entschieden?", fragte Jake und sah erst auf meinen Ringfinger dann in meine Augen.
Ich seufzte, stellte die Tasse auf den Boden und drehte nachdenklich an dem Ring.
„Ich weiß es nicht.", flüsterte ich.
„Ich denke, du weißt es ganz genau.", behauptete Jake und da war er wieder: Dieser wissende Ausdruck in seinen Augen.
„Vielleicht ist es, weil ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen möchte und ja, ich gestehe, dass ich Gefühle für ihn entwickelt habe. Mehr als das sogar. Es ist schwer zu erklären. Ich... Es... Wenn ich ihn ansehe, ist es als würde die Welt aufhören sich zu drehen und ich will nur noch ihn. Ich höre sein Lachen und wünsche mir, dass ich der Grund dafür bin. Mein Herz schlägt schneller, wenn er mich ansieht. Es sind ganz viele alberne Kleinigkeiten, aber für mich ist es viel mehr. Für mich ist Adrien alles. Er hat etwas von einem Loch in seiner Brust geschrieben und ich fühle dasselbe. Ich fühle mich zu ihm hingezogen und auch wenn es verrückt klingt, will ich den Rest meines Lebens, mit ihm und all seinen kleinen Macken verbringen.", versuchte ich meine Emotionen in Worte zu fassen. Aber es misslang mir total.
Jake nickte. „Ich weiß was du meinst. Und glaub mir, es ist weder albern noch verrückt."
Dankbar nickte ich ihm zu und lächelte schief. Mein Kopf war hochrot, als ich bemerkte, dass ich eben in eine ziemliche Schwärmerei verfallen war.
„Und jetzt zeig mir mal den Ring. Ich hoffe doch sehr, dass Adrien wenigstens ordentlich Geld springen lassen hat.", kicherte er und ich streckte ihm stolz meine Hand entgegen.
Einige Zeit danach alberten wir einfach rum und frühstückten, auch wenn es mehr ein verspätetes Mittagessen war.
Ich musste ehrlich gestehen, dass ich ziemlich glücklich war. Das Wissen Adriens Verlobte zu sein, ließ meine Brust schwellen und ich fühlte mich ziemlich gut.
Jake und ich sprachen viel über unsere Gefühle und wie ich mir die Zukunft an Adriens Seite vorstellte. Allerdings war es schwer realistisch darüber zu denken, solange Nassim irgendwo dort draußen lauerte.
„Ich denke es wird gleich anfangen zu regnen.", meinte Jake einige Stunden später und rappelte sich auf.
„Ich glaube du hast Recht.", stimmte ich zu und legte das Buch, in dem ich bis eben gelesen hatte, zur Seite.
In diesem Moment wurde der Himmel noch dunkler und es knallte laut
„Na noch besser: Es fängt an zu gewittern.", stöhnte Jake begeistert und sprang auf die Füße. „Im Garten liegen noch ein paar Sachen rum. Ich sollte sie einsammeln und aufräumen, bevor es anfängt zu stürmen."
Und bevor ich etwas erwidern konnte, war er schon zur Terassentür hinaus. Es knallte wieder so laut und ich zuckte zusammen. Es war dunkel im Haus und ich war alleine hier drinnen.
Am besten würde ich einmal nachsehen gehen, ob Jake Hilfe benötigte. Hauptsache ich kam aus diesem dunklen Raum hinaus.
Draußen riss der Wind alles mit sich, das nicht ausreichend gesichert war und keine Sekunde später setzte der Regen ein. Innerhalb von knapp einer Minute war ich nass bis auf die Socken. Ich konnte mir wirklich nichts Besseres vorstellen.
„Jake?", rief ich laut und fing einen Gartenstuhl ein, der gerade dabei über die große Wiese in Richtung Wald abzuhauen.
„Ich bin hier!", antwortete er und ich sah ihn einige Sachen ins Gartenhaus bringen.
Als ich den Stuhl zurück zum Haus zog, sah ich, dass Chris in seinem Garten ebenfalls alles sicherte.
„Hey Talia.", rief er über den Wind hinweg. „Brauchst ihr noch Hilfe?"
„Nein, danke. Dass müsste alles sein.", brüllte ich zurück und ging davon aus, dass er den Schock von gestern Abend inzwischen verdaut hatte. Gott sei Dank. Ich wollte meinen einzigen normalen Freund nicht nach einem Tag wieder verlieren.
„Wenn was ist, sag Bescheid.", schrie Chris noch, ehe er sich ins Trockene rettete.
Meine klatschnassen Haare wirbelten mir ums Gesicht, als ich mich bückte um einen Handschuh einzufangen.
Danach räumte ich die Polster in den Keller und band die letzten Gartenmöbel aneinander. Es war inzwischen sogar so finster, dass man die eigene Hand kaum noch vor Augen sah.
In gleichmäßigen Abständen zuckte ein Blitz über den Himmel und malte unheimliche Schatten in die Dunkelheit.
Ich wusste, dass der Wald hinter mir lag und ich schluckte, als ich mir vorstellte, wer sich momentan alles unbemerkt an mich heranschleichen könnte.
Schnell vergrößerte ich den Abstand zu den Bäumen und rannte zu Jake der nach mir rief.
Gemeinsam flüchteten wir uns ins Haus und trockneten uns ein wenig ab.
„So ein Mist.", fluchte Jake und sah den Regen böse an.
Ich lachte. „Es wird nicht aufhören zu gewittern, nur weil du jeden Tropfen grimmig ansiehst."
Wir hatten die Glastür offen gelassen um das Naturspektakel aus sicherer Entfernung zu beobachteten.
Jake machte eine abfällige Bemerkung und verdrehte die Augen, ehe er in die Küche ging und sich einen Kaffee machte.
Ich musste daran denken, dass Adrien und ich uns in so einer Nacht näher gekommen waren, als ich ihn an den Klippen gefunden hatte und er mir seinen Schwingen ein Dach gebaut hatte.
„Talia.", flüsterte plötzlich eine bekannte Stimme und ich ging einen Schritt näher an die Tür. Da war nichts. Ich hatte mir das gerade eingebildet. Oder?
„Ich bin hier.", sagte die Stimme wieder gedämpft.
„Jake?", fragte ich leise.
„Ja?", entgegnete er und sah mich kritisch an.
„Da ist jemand." Über meinen Rücken lief ein Schauer. Aber ich hatte keine Angst.
Jake kam zu mir und spähte hinaus. „Bist du dir sicher?"
Ich nickte.
Angestrengt blickte er weiter hinaus. „Ich sehe nichts."
„Ich habe ihn gehört.", meinte ich und beobachtete die Dunkelheit genau.
Ich wusste ich musste keine Angst haben.
Und dann sah ich plötzlich ein paar blaue Augen über die Wiese auf mich zu kommen. Die Augen starrten mich an.
Ich starrte zurück.
„Adrien!", keuchte ich und rannte los.
DU LIEST GERADE
Schwingen der Nacht
FantasyTalia ist ein 19-jähriges Mädchen, dass ihr Leben in vollen Zügen genießt. An das Gerücht, dass in ihrer Stadt rumgeht glaubt sie nicht wirklich. Darin heißt es, dass jeden Vollmond ein geflügeltes Wesen von unmenschlicher Schönheit in ihrer Stadt...