„Jap. Ich gehe dann mal zurück.", entschied ich und drehte mich auf den Fersen um. Hauptsache weg von hier.
Doch noch bevor ich überhaupt einen einzigen Schritt machen konnte, legte sich ein starker Arm um meine Mitte und hinderte mich an meiner Flucht.
„Schön hiergeblieben Madame.", sagte Adrien und hielt mich fest.
„Bitte.", bettelte ich. „Ich hab ein ganz übles Gefühl bei der Sache. Lass uns einfach wieder zurückgehen."
Adrien schmunzelte. „Du musst dich nicht fürchten. Ich werde schon nicht zulassen, dass eine Maus dich auffrisst." Unnachgiebig schob er mich hinter Jake her. Das alte Gebäude kam immer näher.
Mein ganzer Körper schrie mit jedem Meter mehr auf. Alle meine Alarmanzeigen standen auf Rot und meine Haut kribbelte fürchterlich. Als würden tausende von Spinnen darüber hinweglaufen.
Ich stemmte die Füße in den Boden und drehte mich zu ihm um.
„Adrien bitte!", versuchte ich erneut an sein Gewissen zu appellieren und überging seinen blöden Kommentar von zuvor einfach.
Er schüttelte jedoch nur den Kopf. „Das einzige Wesen, das du hier fürchten solltest, bin ich."
Flehend sah ich ihm in die blauen Augen. Er erwiderte meinen Blick ohne weich zu werden. Irgendwann gab ich es auf und drehte mich wieder nach vorne. Jake war bereits in dem dunklen Gebäude verschwunden.
Seufzend ergab ich mich meinem Schicksal und folgte ihm. Allerdings nicht ohne Adrien vorher noch einen bösen Blick zuzuwerfen.
Meine nassen Haare hingen mir ins Gesicht, als ich endlich die Tür erreichte. Vorsichtig sah ich zu Adrien. Er nickte mir aufmunternd zu. Also atmete ich tief durch und setzte meinen Fuß auf die Schwelle. Hier drinnen war es noch dunkler als draußen unter freiem Himmel. Wobei das so auch nicht ganz stimmte, denn immerhin fehlte hier das halbe Dach.
Allerdings verursachten die Schatten der Wände und Balken das Gefühl von absoluter Dunkelheit.
Ich fröstelte. Ob aus Unbehagen oder Kälte konnte ich nicht sagen.
Bedächtig ließ ich meinen Blick über die dunkelsten Ecken gleiten. Viel zu entdecken gab es jedoch nicht.
Von Jake fehlte jede Spur. Um ihn machte ich mir auch keine ernsthaften Sorgen. Wenn einer auf sich aufpassen konnte, dann Jake.
Adrien drückte sich an mir vorbei, nahm mir die Taschenlampe aus den Händen und knipste sie an.
Ruhig ließ er den Lichtkegel über die Wände und den Boden wandern. Der Wind pfiff durch die letzten verbliebenen Deckenbalken und die wenigen Dachziegel ächzten schwer.
Die Luft war feucht und legte sich bei jedem Atemzug schwer auf die Lunge. Es roch nach nassem schimmeligem Holz und altem abgestandenen Wasser.
„Sieht so aus als wäre hier nichts. Dann können wir ja wieder gehen.", flüsterte ich und rieb nervös meine Hände aneinander.
Irgendetwas sagte mir, dass wir nicht hier sein sollten. Es war nur eine Ahnung. Aber als ich das letzte Mal so eine böse Vorahnung hatte, hatte ich sie ignoriert und was hatte es mich gekostet? Mein Leben!
Nein, erneut wollte ich so ein Risiko nicht eingehen. Wir sollten hier einfach schnell wieder verschwinden.
„Warte.", sagte Adrien jedoch in diesem Moment und drückte mir die Taschenlampe in die Hand.
„Adrien lass uns einfach gehen, ja?", fragte ich mit gesenkter Stimme und hoffte, dass er dieses eine Mal auf mich hören würde.
„Noch nicht. Ich will auf dem Dach nachsehen. Das wir hier unten nichts finden, ist keine große Überraschung.", erklärte er leise und schüttelte sich das Wasser von der Jacke.
Angewidert verzog ich das Gesicht, als ich einige Tropfen ins Gesicht bekam.
„Adrien!", wiederholte ich und sah ihm tief in die Augen. „Bitte. Ich habe kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache."
Er legte seine Hände um mein Gesicht und lachte leise. „Du kannst hier bleiben, wenn du möchtest. Du musst nicht mit hoch."
„Darum geht es doch gar nicht.", wehrte ich ab und genoss, das Gefühl der Sicherheit, dass seine Hände mir gaben.
„Was ist es dann?", wollte er gutmütig wissen.
Ich zuckte mit den Achseln. Wie sollte ich ihm das beschreiben?
„Ich weiß es nicht. Es fühlt sich irgendwie an, als wären wir nicht alleine.", versuchte ich es ihm zu erklären.
Der Schein der Taschenlampe spiegelte sich in seinen Augen, als er mir näher kam und mir einen kurzen Kuss auf die Stirn gab.
„Wenn ich hier noch jemand wäre, wüsste ich das.", behauptete er nur und zwinkerte mir zu. „Ich bin das gefährlichste Wesen, das es auf diesem Planeten gibt. Und solange ich in deiner Nähe bin, brauchst du keine Angst zu haben."
„Ich mache mir auch keine Sorgen um mich.", gab ich zu.
„Aber um mich?", fragte er und ich sah, dass es ihm schwer fiel nicht zu lachen.
„Unter anderem.", antwortete ich und seufzte. „Du bist eben nicht das gefährlichste Wesen. Es gibt jemandem der dir gleichgesinnt ist."
„Ich habe keine Angst vor ihm." Er ließ mich los und ging ein paar Schritte zurück. Dann schlüpfte er aus seiner Jacke und warf sie achtlos zu Boden. Das nasse T-Shirt klebte an seiner Brust und betonte jeden einzelnen Muskel noch mehr als sonst.
Bei diesem Anblick wurde mir sofort warm und ich könnte schwören, dass meine Wangen eine zarte Röte angenommen hatten.
Um mich abzulenken, scannte ich mit dem schwachen Licht der Lampe den Boden bis ich Adriens Jacke gefunden hatte.
Langsam durchquerte ich den Raum und hob den nassen Stoff auf. Kräftig schüttelte ich ihn mehrmals aus, bevor ich mir seine Jacke um die Hüfte band.
Adrien beobachtete mich aufmerksam und lächelte, als er sah wo sein Kleidungsstück seinen neuen Platz fand.
Dann wurde er ernst und sah aus als würde er sich konzentrieren und als keine Sekunde später von einem warmen Windstoß erfasst wurde, wusste ich ohne hinzusehen, dass an Adriens Rücken ein paar schwarzer Flügel ihren Platz eingenommen hatten.
„Es haut mich jedes Mal um.", sagte ich, als Adrien mich frech angrinste.
„Kann ich mir gut vorstellen. Selbst mich überrascht der Energiestoß dabei immer noch.", lächelte er und streckte seine Schwingen kurz an den Seiten hervor.
„Aber ohne Oberteil hat es mir besser gefallen.", sagte ich keck. „Das war irgendwie noch magischer." Denn jetzt schien es als würden seine Flügel auf seinem T-Shirt wachsen. Nicht darunter heraus.
Es war einfach zu verrückt und es war echt fragwürdig, ob ich jemals begreifen würde, wie Adrien das machte.
„Hätte ich gewusst, dass ich nur mein Oberteil ausziehen muss um dich zu beeindrucken, hätte ich es sofort gemacht.", neckte er mich und ich lachte.
„Träum schön weiter de Manincor.", lächelte ich und war froh, dass wir die düstere Stimmung etwas auflockern konnten, ansonsten wäre ich allmählich durchgedreht.
„Von dir immer.", stieg er auf meine Provokation ein und schüttelte seine Schwingen. „Gib mir fünf Minuten. Wenn dir irgendetwas vorkommt, brauchst du mich nur rufen und ich komm wieder runter."
„Ist gut.", stimmte ich zu, konnte allerdings nicht verhindern, dass ich bei dem Gedanken daran, hier unten alleine zu sein, schauderte.
„Gut. Ich beeil mich. Versprochen.", versicherte er und küsste mich auf die Lippen. Schnell und ungeduldig. Als wollte er mehr und wusste, dass es gerade ein schlechter Zeitpunkt war.
„Bis gleich.", hauchte ich und sah ihm zu wie er die Flügel an den Körper drückte um kurz drauf nach oben zu schießen.
Ich war also alleine. Einzelne Regentropfen fielen von dem nassen Holz und machten seltsam hohle Geräusche als sie auf dem nassen Boden zerplatzten. Mein Puls raste in meinen Ohren und ich ging sicherheitshalber weiter weg von der Tür.
Meine Schritte wurden von dem morschen Holz geschluckt als ich mit der Taschenlampe zum hunderttausendsten Mal die Wände entlangleuchtete.
Bis jetzt war mir nichts Besonderes aufgefallen. Es schien alles normal zu sein. Soweit alles normal sein konnte, wenn man bei Regen in einer runtergekommenen Scheune stand und darauf wartete, dass sein Verlobter wieder vom Dach herunterkam.
Leise marschierte ich an der rechten Außenwand entlang und leuchtete mit dem schwachen Lichtschein über die Backsteine. Dabei ließ ich nie die Türe aus den Augen, falls plötzlich jemand auf die gleiche Idee wie wir gekommen war.
Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass jeder Mensch der ein bisschen Grips hatte, sich nicht hier her trauen würde.
Erst Recht nicht, wenn Chris das Gerücht von dem geflügelten Wesen weiterverbreitet hatte. Wovon man ausgehen konnte...
Mit der Hand fuhr ich über die Steine, die zu meiner Überraschung trocken waren.
Als ich auf einmal doch Feuchtigkeit an meinen Fingern spürte, schreckte ich zurück und beschien mit der Taschenlampe meine Handfläche.
Sie war rot.
Vorsichtig zerrieb ich die Flüssigkeit mit dem Daumen und stellte fest, dass sie noch frisch war.
Mit bebender Hand beleuchtete ich die Stelle an der ich noch mehr von dem Roten Zeug vermutete.
Erschreckt ließ ich die Taschenlampe fallen, als ich sah wie Rot die Wand tatsächlich war.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei, als mir bewusst wurde, dass das nicht irgendeine rote Flüssigkeit war. Das war Blut.
Höchstwahrscheinlich sogar das von Chris.
Mir wurde schlecht.
Mit wackeligen Knien griff ich nach meiner einzigen Lichtquelle und hob sie wieder auf. Danach betrachtete ich angewidert das Ausmaß.
Rote Schlieren verunstalteten die Wand und liefen noch immer langsam an ihr hinab.
Das Blut war noch frisch.
Warum war es mir denn dann nicht früher aufgefallen? Und warum hatte Adrien es nicht gerochen? Wenn es eben schon an dieser Stelle geklebt hatte, hätte einer von uns es bemerken müssen.
Plötzlich war da wieder dieses Gefühl, als würden Millionen von Spinnen über meine Haut rennen.
Und das war der Moment in dem ich wusste, dass ich nicht alleine hier unten war. Erneut beleuchtete ich das satanistische Kunstwerk an der Wand und würgte Galle hinunter.
„Adrien?", fragte ich laut und schaffte es nicht den Blick abzuwenden.
Dann hörte ich ein Fauchen von der Tür und fuhr herum.
Ein paar rote Augen glühten mir entgegen.
Jetzt schrie ich.
„ADRIEN!"
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Schwingen der Nacht
FantasyTalia ist ein 19-jähriges Mädchen, dass ihr Leben in vollen Zügen genießt. An das Gerücht, dass in ihrer Stadt rumgeht glaubt sie nicht wirklich. Darin heißt es, dass jeden Vollmond ein geflügeltes Wesen von unmenschlicher Schönheit in ihrer Stadt...