T H I R T Y

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Mit zittrigen Fingern öffnete ich den kleinen Brief in diesem schlichten weißen Umschlag, der noch alles weitere verhüllte.
Die Angst zog an meinem Magen und ließ mich meine Aufmerksamkeit völlig auf das kleine Couvert in meiner Hand richten, nicht einmal Jakob, der sich immer noch interessiert über mich beugte, bekam einen Teil von ihr ab.
Das letzte Reißen des Papiers, das den Brief umgab, dann war er frei.
Am Rande meiner Nerven klappte ich ihn auf, konnte die Worte die dort drinnen stehen würden kaum abwarten.

Meine liebste Wally,
wie lange ist es denn nun eigentlich schon her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben?
Meine Kleine, es tut mir so leid.
Es lag doch nie an dir, nie wollte ich die letzten Tage, Stunden, Minuten und Sekunden deiner Zeit ohne dich verbringen!
Doch auch mir wurde ein Strich durch die Pläne gemacht.
Erinnerst du dich daran, wie ich mit dem Doktor stundenlang noch während deines Besuches dort weggeblieben war?
Damals dachtest du, ich hätte etwas mit ihm am laufen.
Daraufhin habe ich nur gelacht und dir kichern versichert, dass dem nicht so wäre.
Die Wahrheit, was in dieser Zeit damals passiert ist, hatte ich dir nie gesagt. Ich konnte es einfach nicht. Ich wollte dich nicht zerstören.
Mein Schatz, was würde ich alles dafür geben, dich ein letztes Mal in die Arme nehmen zu können, dir zu sagen, wie sehr ich dich doch liebe.
Du dachtest damals, ich hätte es nicht, nie, getan. Und ja, so kam es für dich wahrscheinlich rüber, doch vergesse nie wie gebunden Mütter an ihre Kinder sind.
Sie können noch so viel Quatsch anstellen, einem immer Ärger machen, die Mutter würde sie trotzdem nie verlassen.
Erinnerst du dich an die vielen gemeinsamen Momente des Lachen und Streitens?
Ich habe keinen einzigen von ihnen bereut, nie auch nur eine Sekunde, die ich gemeinsam mit der verbracht habe.

Ich spürte eine warme, sanfte Hand auf meiner zierlichen Schulter, die einen beruhigenden Druck abgab.
Aber viel schien es nicht zu bringen, denn einer dieser schrecklichen Gedanken, den ich vorhin noch so gut ausblenden konnte, hatte sich in meinem Kopf festgesetzt.
Warum klang es so, als würde meine Mutter von mir Abschied nehmen?
Warum hatte sie sich überhaupt von mir getrennt, wenn sie doch angeblich jede Sekunde mit mir verbringen wollen würde?
Und was war damals wirklich geschehen, wenn sie ehrlich nichts mit dem Doktor hatte?
Ich war so begierig auf Antworten und hatte den Drang, sie den weiteren Zeilen fast qualvoll zu erreichen.
So las ich nervös weiter.

Wally, verzeihe mir jede Sekunde die ich nicht bei dir war.
Ich bereue das alles und wünsche mir, dich zurück zu haben. Doch es wird nicht gehen.
Wally, mein Herz, ich versichere dir, ich habe versucht zu kämpfen, doch letzten Endes hat es nicht geklappt.
Meine Kleine, das mit dem angeblichen Lover-Doktor war alles andere als erfreulich.
Bevor dein Ergebnis kam, tat ich dasselbe.
Einen Test.

Vor meinem inneren Auge bildete sich eine Antwort, doch ich wollte, konnte sie nicht glauben.
Nein! So konnte es nicht sein.
Und so sehr ich es auch verhindern wollte, so rannen mir doch trotzdem dir ersten Tränen an den Wangen hinab.

Wally, ich möchte damit nicht sagen, dass ich schwanger bin, nein.
Viel mehr, ich wollte dich schützen.
Davor, wovor ich angeblich mich schützen wollte.
Schatz, ich bin es, die dich davor schützen wollte.
Doch jetzt - es kommt mir albern vor.
Wer von uns beiden zuerst stirbt, es ist egal. Wir beide haben doch überhaupt nicht die Fäden zur Kontrolle über unser Leben in den Händen und können nur aufs Ende warten.
Wally, ich bin krank. Tödlich krank.
Es schmerzt mich, dieses Wort vor dir benutzen zu müssen, da du eh schon den Tod deines Vaters und deines Bruders mitbekommen musstest.
Ich, Wally, wollte dich vor dem Erlebnis von meinem Tod bewahren.
Ich wünschte, ich würde dir nie diesen Brief schicken, doch ich muss.
Findest du es besser, wenn ich dich im Ungewissen lasse?
Ich wünschte, ich könnte dich ein letztes Mal in den Arm nehmen, dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Doch es wird mir verwährt bleiben.
Lebe wohl, mein Sternenkind.
In Liebe,
Mom

Ich konnte es nicht aufhalten.
Nun rannen mir die Tränen in Sturzbächen die Wangen hinab und durchnässten innerhalb von Sekunden meinen Ärmel, den ich mir schützend vors Gesicht hielt.
Neben mir spürte ich einen warmen Körper, an den ich eng gezogen wurde und eine Hand, die mir tröstend über den Rücken strich.
Doch sie musste noch so sehr tröstend sein, ich spürte, wie die Person neben mir selbst unter einigen unterdrückten Schluchzern erbebte.

Lebe wohl, mein Sternenkind...

Um mich herum wurde alles noch schwärzer, jedes Gefühl, jede Berührung, jedes Geräusch prallten an mir ab.
Das letzte was ich bemerkte war, wie ich übermannt von der unbändigen Trauer mit einem Aufprall auf den Fliesenboden zusammenbrach.

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