T W E N T Y - N I N E

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Als die ersten Sonnenstrahlen anfingen vom Schnee reflektiert zu werden, erhob ich mich zitternd von meinem Platz zwischen zwei Baumwurzeln.
Die Zeit nach Hause zurückzukehren war gekommen und so musste ich, ob ich es nun wollte oder nicht, mich auf den Weg machen.
Der halb gefrorene Schnee knirschte unter den Schritten meiner Turnschuhe, die mich Stück für Stück von diesem Ort hier wegbrachten.
Dem Ort, wo in einer so kurzen Zeit, so viel mit Jakob passiert war.
Wir hatten mehr oder weniger gekuschelt, gewärmt, gestritten, angefaucht und den jeweils anderen kennengelernt.
Die verblassten Erinnerungen der Nacht ließen mich daran zweifeln, ob das nun wirklich vorgefallen war oder nicht.
Und die einzige Möglichkeit das herauszufinden hatte ich nur, wenn ich Jakob persönlich fragen würde.
Mit um den Körper geschlungenen Armen stapfte ich weiter, die Zähne als Ansporn zusammengebissen.
Der Marsch dauerte eine gefühlte Ewigkeit und trotzdem stieg die Sonne Stück für Stück noch weiter nach oben.
Schon nach einiger Zeit, die noch nicht einmal ziemlich lang schien, brannten meine Waden durch den muskelfördernden Stampfmarsch durch diesen Haufen von Schnee.
Ich freute mich jetzt schon auf diesen herrlichen Muskelkater am folgenden Tag.
Doch meine wirren, wandernden Gedanken ließen mir nicht viel Zeit für meinen neu gefundenen Sarkasmus.
Was meinte Jakob damit?
Was wusste er denn angeblich über mich?
Wollte er mich absichtlich damit einschüchtern?
War es nur eine Lüge?
Nur etwas, das mich auf ihm aufmerksam werden lassen sollte?
Doch ich konnte mir noch so sehr den Kopf darüber zerbrechen, die wirklich richtige Antwort würde ich dadurch nicht erraten, gar herausfinden.
Es war einfach lächerlich, zum Kopf an die Wand schlagen!
Der früheren Wally wäre so etwas nie passiert, zu keiner Zeit!
Und nun steckte ich bis zum Hals in der heißen Scheiße.
Wie war ich dort bitteschön hineingeraten?
Wenn ich einmal aufzähle, was soll denn genau der Auslöser sein?
Angefangen hat mein neues ach-so-tolles Leben damit, dass ich herausfand, eine Herzkrankheit zu haben.
Ja super, so weit so gut, was war denn daran bitte verdächtig, außer die Tatsache, dass ich mein Leben sowieso bald vergessen konnte?
Ehrlich gesagt, nichts. Überhaupt nichts.
Dann dieser Brief.
Ja, an ihm war auf jeden Fall etwas komisch, allein deshalb, weil ich ihn ja gefunden hatte. Aber sonst?
Ne.
Oder - doch. Es könnte sein.
Dieser zweite Brief, zu diesem Zeitpunkt war ich nicht länger in meinem alten Wohnheim. Warum hatte ich ihn also trotzdem bekommen?
Es war ja nicht so, dass er an jemand bestimmtes adressiert worden war, das hätte wohl draufgestanden.
Oder, ich verriet auch nicht ständig meinen aktuellen Wohnort.
Ja, an dieser Sache war auf jeden Fall etwas komisch, aber das sie zu diesem Rest gehörten, nichts anderes als Zufall.
War es Moms Schuld?
Hatte sie das alles vorausgeahnt?
Wollte sie, das ich in solchen Schwierigkeiten stecke?
Nein, niemals. So war meind Mutter nicht, selbst wenn sie mich an diesen Ort geschickt hatte.
Sie ist immer ein liebenswürdiger Mensch gewesen, aber...
Vielleicht wollte sie dich einfach nicht mehr?
Vielleicht hast du ihr zu viel Kraft abverlangt?
Bei so einem schrecklichen Kind - anders hätte es niemand gemacht.
Verzweifelt schlug ich mir die Hände vors Gesicht und ließ mich, wie schon so oft, auf den Boden fallen.
Warum nur?
Warum nur tat ich mir selbst das an?
Warum musste ich auch an so etwas überhaupt erst denken?
Mit letzter Kraft stieß ich mich vom Boden ab und lief nun weiter.
Mir blieb nur die Hoffnung, dass mein Weg nicht mehr so lange sein würde.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich entschlossen, mich dadurch nicht selbst zu zerstören.
Ja, natürlich, mit irgendetwas musste ich dort hineingerutscht sein, aber durch Raten und Rätseln die Lösung auf die Frage, wie überhaupt, herausfinden zu wollen, das war eigentlich nur reiner Selbstmord.
Und es war schwer für mich, das zu akzeptieren, doch es musste so sein.
Ich wollte doch nicht am Ende völlig zerstört und gestört auf einem Bett beim Psychiater landen.
Langsam gingen meine Gedanken in ein gleichmäßiges, friedliches Denken über und so vertrieb ich mir die Zeit, bis ich endlich wieder zum ersten Mal durch die Eingangshalle laufen könnte.

°•••°

Mittlerweile war die Sonne über ihren höchsten Punkt hinweg gekommen und mein Magen knurrte laut.
Wie der Weg mir beim ersten Mal noch so kurz vorkam, so war er jetzt gefühlt ungefähr um eintausend Mal länger.
Mit der Zeit schwand meine vorhin aufgekommene Euphorie und meine Schritte schlurften nur noch so über den Boden.
Es war ein Höllenlauf.
Meine Waden, insgesamt alles, brannte vor Anstrengung und ich konnte mir ein Ende schon gar nicht mehr vorstellen.
Irgendwann würde ich einfach vor Erschöpfung zusammenbrechen und-.
Nein, warte! Da!
Dort drüben, näher als nur am Horizont, schielte eine Turmspitze des lang ersehnten Gebäudes hinter mehreren Baumwipfeln hervor und schien mich mit ihrer nun langsam gewohnten Form wie köstliche Beute anzulocken.
Mit neuer Energie rannte ich los, immer auf die Spitze zu, in der Hoffnung, dass es ja keine Fata Morgana sein würde.
Die Frage, ob es die denn nicht nur in Wüsten gab, die kam mir gar nicht erst in den Sinn.
Ich war einfach zu sehr auf dieses Objekt fokussiert.

Doch obwohl sie so nah schien, erreichte ich sie tatsächlich erst beim ersten Licht am frühen Abend.
Die ersten romantisch rötlichen Strahlen schienen auf die Fenster und spiegelten sich darin in ihrer wunderschönen Art.
Mit schlurfenden Füßen und hängendem Kopf trat ich in die Eingangshalle ein und ließ mich einfach so mir-nichts-dir-nichts auf den warmen gefliesten Boden fallen.
Zum ersten Mal seit einem gefühlten Jahr spürte ich wieder Wärme durch meine Kleidung strömen und keine Kälte.
Doch lange hielt diese Erleichterung nicht an.
Ein mir allzu bekanntes Gesicht tauchte über meinem auf und blickte mich fragend an.
Dann:
"Ich-, ähm, genau. Ich wollte dir nur schnell diesen Brief geben."
Ein peinlich berührtes Räuspern folgte direkt darauf.
"Sorry, ich hätte auf dich warten sollen. Es tu-"
Doch ich hörte schon gar nicht mehr zu.
Völker in Beschlag genommen von dieser Stimme, ihrem Besitzer und dieser Schrift.
Die Schrift auf meinem Brief.
Und alle beide waren mir mehr als bekannt...

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