Kaum hatte sie ihre Wahrheit gesprochen, schlug sie ihre Hand vor den Mund und sah Max mit einem Blick an, den er noch nie zuvor von ihr gesehen hatte. Sie hatte Mitleid mit ihm. Mitleid, weil er nicht der richtige war.
„Alles gut hier?", durchschnitt Terrence Stimme die dicke Luft und kündigte so, sich selbst, Zoey, wie auch mit etwas Abstand Francesco an, welcher hektisch von Callie zu Max sah und wieder zurück. „Jap", schoss es aus Max, welcher mit dem Rücken zu seinen Freunden stand und Callie schmerzverzerrt anlächelte. „Wollen wir los?", erkundigte er sich im nächsten Atemzug und ging bereits auf das Gartentor zu. Nach kurzen Blickaustausch setzten sich auch die anderen in Bewegung, um sich dann gemeinsam ins Auto zu setzten.
Nach kurzer, schweigsamen Fahrt, mit heimlichen, schmerzverzerrten Blicken zwischen Callie und Max, erreichten sie den Friedhof, an dem sie noch kurz zuvor dabei zusehen mussten, wie ihr bester Freund in ein für ihn gegrabenes Loch hinabgelassen wurde. Sie alle benötigten ein paar Minuten allein mit ihm. Nur sie sechs, wenn auch nur fünf schlagende Herzen dabei waren. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal was sagen, aber sie wollten einfach ein letztes Mal zusammen zu sein.
Je näher sie dem Grab kamen, desto langsamer wurden ihre Schritte. Es war frisch zugeschüttet und oben drauf lag lediglich der Blumenkranz, den seine Väter für ihn ausgesucht hatten und eine Kerze, die in dem leichten Dämmerlicht des einbrechenden Abends strahlte. Max war der erste der sich auf ein Knie niederließ und eine Hand über das Grab hielt: „Mögen wir uns wiedersehen.", flüsterte er, sodass nicht Mal die anderen es hören konnten. Noch während er sich mit all seiner Kraft wieder hochdrückte, schritt Terence vor und legte ein kleines silbernes Amulett auf das Grab. Zittrig, hauchte er „Auf das es dir Glück bringt, mein Bruder." Bedrückt lies Max seinen Arm um Terrence Schultern gleiten, und führte ihn damit einige Schritte weiter weg, damit Callie und Francesco sich über das Grab beugen konnten. Keiner von ihnen sagte etwas aber sie beide hielten sich an den Händen und starten auf das kleine Pappschild, welches provisorisch aufgestellt wurde, bis der Grabstein fertiggestellt wurde. Schneller als erwartet entfernten auch sie sich von dem frisch zugeschüttete Loch und ließen Zoey allein zurück. Ihr Körper wirkte in sich zusammen gesackt und vollkommen Energielos. Zu diesem Zeitpunkt konnte man sich die Frage stellen, was sie am Leben hielt und das war höchstwahrscheinlich die Gewissheit, dass sie nicht allein war. Nicht jetzt und auch in Zukunft nicht. Augenblicklich änderte sich ihre Körperhaltung, als hätte sich etwas in ihr verändert. Mit ausgestreckter Hand, bat sie ihre Freunde wieder zu ihr zu kommen und lächelte ihnen aufmunternd zu. „Wisst ihr, ich glaube es geht ihm gut. Ich spüre es einfach", gab sie offen zu und lächelte erstaunlicher Weise von einem zum anderen Ohr. „Und ich glaube auch, dass er wollen würde, das wir auch wieder glücklich werden", ergänzte sie und schaute ihre Freunde einen nach den anderen an. Auf ihren Gesichtern sah man erste Versuche zu lächeln, auch wenn es nicht unbedingt klappte, zu tief lag der Schmerz und zu frisch war die Wunde. Aber sie hatten das Gefühl in Zukunft wieder wahrhaft lächeln zu können. Sie brauchten nur Zeit. Zeit, um zu lernen mit der Trauer umzugehen und Zeit, um den schuldigen zu schnappen. Mehrere Minuten standen sie gemeinsam am Grab und blickten einfach nur hinab auf ihren Freund. Aber sie schauten in die falsche Richtung. Würden sie hoch blicken, dann hätten sie auch gesehen, wie sich eine Gestalt langsam näherte und die Kinder im Visier hatte. Vom Weltall konnte man sehen, dass die in schwarz gekleidete Person versuchte möglichst unauffällig durch die Grabreihen zu huschen und nur wenige Meter entfernt war. Viel zu spät bemerkten die fünf den Mann. Erst als dieser sich ruckartig Max schnappte und ihm eine silberne Klinge an den Hals hielt. Augenblicklich schrie Callie auf und versteckte sich hinter Francesco, welcher wütend einige Schritte auf Max und den Mann zumachte. Doch Zoey und Terrence hielten ihn erschrocken und voller Furcht zurück. Nach Luft schnappend fasste Max den Arm des Mannes und versuchte diesen weiter weg zu drücken, damit er freier atmen konnte. Doch er war zu schwach. In dem schwachen Licht der vielen Kerzen und des aufgehenden Mondes erkannte Zoey wenn auch erst langsam ein bekanntes Gesicht. „Carson", murmelte Francesco drohend, als auch er ihn erkannte und versuchte sich aus den Griffen seiner Freunde zu befreien. „Ihr konntet es nicht lassen was?", dröhnte er und hielt den zappelnden Jungen in seinen Armen immer fester. Er machte kurz Pause, in der man das Gewimmel von Callie hörte, Max ängstliche zischende Atmung und Francescos wütendes schnaubendes Stöhnen „Ihr hättet einfach nur akzeptieren sollen, dass er tot ist.", erklärte er. Doch seine Stimme klang verzweifelt. Selbst er hatte Angst, was Zoey komplett absurd vorkam, da er derjenige war, der sie bedrohte. „Ihr hättet einfach aufgeben sollen, dann müsste ich das alles nicht machen.", führte er fort und drückte die Klinge fester an sein Opfer. Vor Schmerzen jaulte Max auf, was Callie erneut zum aufschreien brachte „Lass ihn los!", schrie sie und klammerte sich an Francescos Arm, welcher noch immer unruhig hin und her wippte. „Willst du seinen Platz einnehmen süße?", fragte er ironisch nach und lachte förmlich über seinen eigenen Vorschlag.
Obwohl sie gerade einmal wenige Sekunden in dieser Situation gefangen waren, fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Am Hals von Max konnte man bereits einen Bluttropfen erahnen, der die silberne Klinge entlang fließen würde. Callies braune Rehaugen glänzten vor Tränen und Francescos geballten Fäuste verrieten seine Wut. Auch Terrence blickte Carson finster an aber seine zitternden Beine verrieten, dass er viel zu ängstlich war, um irgendwas zu tun. Und Zoey? Sie hielt ihr Handy in der Hand und filmte alles mit einem fast schon siegessicherem Blick. „Gib lieber selbst auf!", durchschnitt Zoeys nervöse Stimme die bedrückende Stille. Kaum erreichten ihre Worte Carsons Ohr, wandte er sich augenblicklich dem filmenden Mädchen zu und brüllte wutentbrannt und entblößt: „Nimm das Handy runter, du Miststück! Sonst bist du die nächste!" Doch Zoey machte keine Anstalten es zu senken. Stattdessen trat sie näher an Carson und richtete die Kamera direkt auf sein bebendes Gesicht, welches immer mehr an Fassungslosigkeit gewann. Während Carson immer unruhiger wurde, hatten die fünf langsam das Gefühl zu gewinnen. Sie hatten es auf Video, wie er einen Teenager mit einem Messer bedrohte. Allein das würde ausreichen ihn zu verurteilen aber mit diesem Charakterzeugnis können sie endlich beweisen, dass er Louis umgebracht hat. „Wir haben dich auf Video.", trotzte Francesco und lächelte ihn verschmitzt an „Jetzt kommst du nicht mehr so einfach davon, du elendiger Dreckssack!", ergänzte er belustigt und zog zügig auch sein Handy aus der Tasche, richtete es auf Carson und startete die nächste Aufnahme. Von oben konnte man sehen, wie der Druck auf der Klinge langsam nachließ und Max erleichtert ausatmete. Auch wenn die Klinge nicht mehr in sein Fleisch drückte, hielt Carson Max noch immer mit festen Griff fest. Doch als auch Callie und dann Terrence ihre Handy ebenfalls auf ihn richteten, stieß er Max wütend zu Boden und rannte auf die anderen vier mit erhobenen Messer zu.
Plötzlich durchschnitt eine kräftige, tiefe Stimme die brodelnde Luft: „Lassen Sie das Messer fallen!". Die Blicke der fünf fielen auf Chester, der sich mit fünf weiteren uniformierten Beamten hinter Carson aufbauten und mit scharfer Waffe auf ihn zugingen. Augenblicklich verharrte Carson in seiner Bewegung und fluchte lautlos vor sich hin. Seine Augen wanderten wild von Zoey zu Callie, dann rüber zu Terrence und Francesco. Lediglich Max schaute er nicht erneut an. Und während er so da stand, mit verzweifelten Augen und wackligen Händen, sah er aus, wie das Opfer selbst. Als wäre er derjenige, der gerettet werden müsste, aber jetzt bekam er einfach nur das, was er verdiente. Die uniformierten Männer schritten weiter auf Carson zu und legten ihn nach elendig langer Zeit endlich Handschellen um die Hände und ab dem Zeitpunkt passierte alles wieder in Zeitlupe, so wie damals.
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Letters To Him
Teen FictionAuf der Suche nach seiner leiblichen Mutter geraten Louis und seine fünf Freunde in die Schussbahn eines Mörders. Als einer der sechs nicht lebendig aus den Fängen des Mannes wiederkommt beginnt der Kampf um Gerechtigkeit, doch was ist, wenn es sow...