Ein Spielmannszug beschallte die sonst so verschlafenen Gassen, die heute nur so vor Leben sprudelten. Wimpelketten und Piratenflaggen flatterten im Wind. Kinder machten Seifenblasen und liefen mit bunt geschminkten Gesichtern umher. Fleisch brutzelte auf einem riesigen Grill und auch Ole hatte alle Hände damit zu tun, seine Fischbrötchen an die hungrige Kundschaft zu verteilen. Er hatte Unterstützung von Isa bekommen, die mal wieder auf Lotte aufpasste. Meine Mutter war natürlich nicht da, sie konnte Dorffeste nicht ausstehen, obwohl sie ihre Kindheit selbst abgeschieden in einem kleinen französischem Dorf verbracht hatte, aber vielleicht kam ja gerade daher die Abneigung.
Ich wartete etwas abseits neben dem Karussell auf Maja. Sie hatte unbedingt eine Runde drehen wollen und saß nun freudestrahlend auf einem der buntbemalten Pferde. Sie wirkte leicht fehl am Platz, zwischen den ganzen Kindern. Aber total glücklich. Ich dagegen fühlte mich ziemlich unwohl, war kein Fan von Menschenmassen. War mein Outfit doch zu auffällig? Wurde ich angestarrt? Ich musterte mich in einem nahen Schaufenster, richtete den hellbraunen, breiten Ledergürtel, der perfekt zu den Stiefeln passte, und zupfte die Bänder in meinen Haaren zurecht. Nervös schaute ich mich um. Es gab tatsächlich niemanden, der keine Piratenverkleidung trug. Ich war nur eine unter vielen, nichts besonderes, das musste mir wieder bewusst werden. Wahrscheinlich bemerkte man mich gar nicht.
Anders war das bei Maja, ihr schauten die Leute noch lange hinterher. Aber sie war auch die schönste Piratin weit und breit, mit der schulterfreien Bluse, der engen Hose und dem Korsett. Die Runde auf dem Karussell war vorbei und sie kam auf mich zu gelaufen. An ihrem Hüfttuch klimperten zahlreiche goldene Münzen. Sie lächelte jedem zu und grüßte, egal ob sie ihn kannte, oder nicht. „Friedachen!", sie umarmte mich stürmisch und immer noch überglücklich. Wenn sie bei mir war, fühlte ich mich geborgen und richtig auf der Welt, dann wurden mir die vielen Menschen um uns herum langsam egal. Sie war mein sicherer Hafen. „Dir scheint es ja gefallen zu haben. Ich hatte schon Angst, ich bekomme dich da gar nicht mehr runter.", sagte ich und freute mich automatisch mit, weil sie so beglückt war. „Das nächste Mal musst du mitkommen! Ich könnte den Rest meines Lebens auf einem Karussell verbringen!", rief sie voller Begeisterung. Hm, das nächste Mal. Ich rechnete nicht damit, dass es eins geben würde.
Wir schlenderten langsam vorwärts. Maja tastete vorsichtig nach meiner Hand. „Ist das okay, oder...?", fragte sie unsicher. Eigentlich war es das nicht, aber eigentlich kannte mich hier auch keiner. Eigentlich. Ich wog die Dinge ab: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit auf weitere, wunderschöne Momente mit ihr und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand mit ihr sah, und es meiner Mutter erzählte? Ach scheiß drauf! Ich wollte Zärtlichkeiten, ich wollte Maja und ich wollte einen unvergesslichen Abend. Also gab ich ihr einen leichten Klaps auf den Hintern, zog sie dicht an mich heran und legte einen Arm um sie. „So gefällt mir das Baby!", meinte sie euphorisch und setzte mir ihren schicken Dreispitz mit Federn auf.
Gerade machten wir auf dem Pier am Hafen, wo weniger Leute waren, eine kleine Pause von dem Dosenwerfen, Sackhüpfen und derartigen Tätigkeiten, als sich plötzlich ein schmieriger Typ neben Maja setzte und sagte: „Dein Korsett sieht ziemlich eng aus, ich sollte dir daraus helfen!". Er streckte schon seine schmutzigen Hände nach ihr aus, doch ich zückte schnell meinen Degen, der schon die ganze Zeit über an meinem Gürtel gebaumelt hatte, und schob sie beiseite. Keine Ahnung, ob das Ding überhaupt echt war. „Nix da! Finger weg!". Er lachte dreckig. „Ihr Weiber seid doch viel zu blöd, um damit umzugehen!", rief er abfällig. Ich sprang auf, obwohl Maja versuchte, mich zurückzuhalten. „Ich kann das.", flüsterte ich ihr zu. Sie verlieh mir genug Selbstsicherheit für diese Aktion. „Ach ja?! Dann komm her!". Nun konnte ich wirklich keinen Rückzieher mehr machen, geschweige denn erstmal drüber nachzudenken, was ich hier eigentlich gerade tat. Der Typ brüllte etwas unverständliches, holte seinen Degen hervor und kam auf mich zugestürzt. Was niemand hier wusste: Mein Vater war Spitzensportler im Fechten gewesen, er hatte mich trainiert. Manche Dinge behielt ich ja lieber für mich. Geschickt scheuchte ich das Großmaul über den Pier, drängte ihn bis zum Ende und fühlte mich dabei beinahe wie in einem Fantasy-Roman. Es war aber auch nicht schwer, denn er war angetrunken und hatte so gut wie keine Koordination. Ein letzter, kräftiger Schlag und er fiel rücklings in Wasser. „Wehe, du lässt uns nicht in Ruhe!", ich funkelte ihn böse an. Er nickte eingeschüchtert und tauchte beschämt unter.
Ich lächelte zufrieden, rannte zu Maja zurück und setzte mich neben sie, als wäre nichts passiert. Als hätte ich nicht ein filmreifes Duell gewonnen. „Was war das gerade?!", fragte sie mich mit großen Augen. „Eine Kombination aus spontaner Selbstsicherheit und ... Glück?". Sie lachte und legte einen Arm um mich. „Friedachen, Friedachen, jetzt mag ich dich gleich noch viel lieber.". Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter. „Wenn das überhaupt noch möglich ist.", fügte sie noch flüsternd hinzu.
DU LIEST GERADE
𝐖𝐚𝐬 𝐟𝐮̈𝐫 𝐢𝐦𝐦𝐞𝐫 𝐢𝐬𝐭
General FictionOder was bleibt, wenn der Sommer endet? Über Maja, die Sonnenschein in menschlicher Form gleicht, und Frieda, die mistendes genauso geheimnisvoll wie das Meer ist. Gemeinsam erleben sie zahlreiche, unvergessliche Marmeladenglasmomente und Postkarte...