Seit ich denken kann, war ich anders. Früher war alles perfekt, ich bin auf einer riesigen Farm mit vielen Tieren und meinen fünf Geschwistern aufgewachsen. Meine Eltern waren sehr liebevoll, bis zu einem besonders warmen Sommertag im August. Ich hatte mich gerade mit einer gewissen Zeitschrift zurückgezogen, die ich mir nach der Schule in der Stadt gekauft habe. Es gab natürlich wahnsinnigen Ärger, weil ich nicht rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause war. Das war mir in dem Moment aber egal. Als ich mich gerade in mein Zimmer zurückgezogen hatte, kam meine Schwester rein. Natürlich hat sie mich bei unseren Eltern verpatzt und so begann das ganze Chaos. Für meine Mutter ist eine Welt zusammengebrochen. Sie ist eine sehr religiöse Frau und eine lesbische Tochter war für sie wohl das Schlimmste, was sie sich in dem Moment vorstellen konnte. Zwei Tage später wurde ich in eine Klinik eingewiesen, es war der 16. August 2009, bis heute erinnere ich mich daran. Ich hatte wahnsinnige Angst und habe mich total alleine gefühlt. Meine Mutter hat mich nur kopfschüttelnd angeschaut, mein Vater hat mich zum Abschied umarmt. „Wenn du dich anstrengst, kannst du bald zu uns zurückkommen.", hat er mir zugeflüstert. Ich habe echt daran geglaubt, aber es ist nicht so schnell passiert.
In den ersten Tagen habe ich meine Familie sehr vermisst. Die Therapien waren besonders anstrengend, andauernd wurde mir gesagt, dass es falsch ist, Frauen zu lieben. Heute weiß ich, dass ich damals einer Konversionstherapie unterzogen wurde. Ich war gerade mal vierzehn Jahre alt. Natürlich habe ich mich geweigert, ich war voll in der Pubertät und ich war wirklich sehr stur. Wir wurden oft in unseren Einzelzimmern eingesperrt, zu den Therapien wurden wir geholt und zum Mittagessen haben wir die anderen Patienten gesehen. Mit meinen vierzehn Jahren war ich eine der jüngsten, die älteste war achtundvierzig Jahre alt. Nur Liam war noch jünger als ich, er war erst elf. Liam ist trans, er wusste es schon, als er fünf Jahre alt war. Es passte nicht in das Bild seiner Eltern, eines Bürgermeisters und einer Hausfrau mit sehr altmodischen Moralvorstellungen. Sie zwang Liam in rosa Klamotten. Meiner Meinung nach kann natürlich jeder das tragen, was er oder sie möchte, Männer können genauso rosa tragen, wie Frauen, aber für Liam war es die Hölle. In der Klinik dachten sie, er wäre lesbisch. Liam steht auf Frauen, aber er ist ein Mann. Wir haben uns schnell angefreundet, aber schon bald wurde ich entlassen, da alle dachten, ich wäre 'geheilt'. Ab diesem Zeitpunkt habe ich gelernt, mich zu verstecken. Ich begann die Schule zu schwänzen und mit dem Bus nach Sydney zu fahren. Dort musste ich mich nicht mehr verstecken. Meine Eltern haben vorerst nichts davon erfahren, sie hatten nämlich kein Telefon.
Eines Tages kam es dann natürlich doch raus, als einer meiner Lehrer plötzlich vor der Tür stand. Er hatte mich an seinem freien Tag in der Stadt gesehen, als ich gerade aus einem Café kam und ein anderes Mädchen geküsst habe. Ich kam wieder in eine so genannte Heilanstalt, zu dem Zeitpunkt war ich sechzehn Jahre alt. Die Therapie war hart und ich konnte die Ärzte diesmal nicht so leicht überzeugen, dass ich wieder geheilt bin. Mir wurde beigebracht, wie man sich richtig anzieht, wie man kocht, putzt und wie man einem Mann gefällt. Eigentlich möchte ich gar nicht darüber reden, aber wenn ich es nicht tue, dann wird es niemand tun. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde mir ein Medikament oder etwas ähnliches gespritzt, was dafür gesorgt hat, dass ich mich bei dem Anblick von nackten Frauen auf Fotos übergeben musste. Diese Art von Therapie musste ich alle zwei Tage über mich ergehen lassen, aber irgendwann hatte ich die Therapeuten überzeugt, dass diese Therapieform bei mir gewirkt hat. Der nächste Schritt der Therapie war noch ekelhafter. Mir wurden Bilder von nackten Männern gezeigt und ich sollte wohl davon erregt werden. Das schlimmste war allerdings, dass ich irgendwann mit einem Mann schlafen sollte. Um diese Hölle wieder verlassen zu können, blieb mir keine andere Möglichkeit, also habe ich das getan, was ich mir am wenigsten vorstellen konnte.
Mit achtzehn kam ich dann wieder nach Hause. Nach ein paar Tagen durfte ich dann auch wieder zur Schule, da ich so viel verpasst hatte, kam ich mit meiner kleinen Schwester Linda in eine Klasse. Meine Eltern beauftragten sie, auf mich aufzupassen. Das Schule schwänzen war also nicht mehr möglich. Ich konnte auch nach der Schule nicht mehr heimlich nach Sydney fahren, da mich meine Schwester auf Schritt und Tritt verfolgte. Also konzentrierte ich mich total auf die Schule. Unsere Sportlehrerin war sehr süß, ich war sogar ein bisschen in sie verliebt. Wobei, ein bisschen wäre deutlich untertrieben, ich habe sie geliebt. Natürlich hat es niemand bemerkt, meine Eltern waren glücklich, dass ich mich auf etwas konzentriert habe, dass augenscheinlich nichts mit Frauen zu tun hatte. Schon bald wurde ich in die Fußballmannschaft der Schule aufgenommen. Meine jüngere Schwester, die eigentlich gar kein Talent für Fußball hatte, wurde auch in das Team aufgenommen, allerdings nur als Ersatz. Später habe ich dann erfahren, dass unsere Eltern die Schule unter Druck gesetzt haben. Unsere Sportlehrerin Kathy, die gleichzeitig auch unsere Mannschaft trainierte, hatte ein enges Verhältnis zu uns. Wir sind oft nach dem Training Essen gegangen und nach jedem Spiel hat sie uns zu sich eingeladen. Irgendwann haben Kathy und ich unsere Nummern ausgetauscht, in der Zwischenzeit hatte ich mir heimlich ein Handy besorgt. Es wurde schnell mehr, als nur eine Freundschaft. Da ich von meiner kleinen Schwester permanent beobachtet wurde, konnte ich mich nie mit Kathy treffen. Nur in der Schule haben wir uns ab und zu nach dem Unterricht unterhalten und das ein oder andere Mal konnten wir uns auch küssen. Kurze Zeit später sind wir mit der Fußballmannschaft weggefahren. Kathy wollte meine Schwester nicht mitnehmen, aber meine Eltern haben sie unter Druck gesetzt, Linda kam dann mit. Nachts schlich ich mich in das Zimmer von Kathy. Es war wahnsinnig aufregend und romantisch. Es hätte so schön sein können, aber wir wurden von der besten Freundin meiner kleinen Schwester erwischt und so erfuhr Linda davon. Meine Eltern holten uns noch in dieser Nacht ab. Kathy verlor ihren Job und ich durfte nicht mehr zur Schule.
Die Einrichtung, in die ich dann gebracht wurde, würde ich als die Hölle auf Erden bezeichnen. Die Therapeuten dachten, sie könnten uns heilen, in dem sie uns auf jeden erdenkliche Weise missbrauchten. Ein paar Wochen nach meiner Einweisung hatte ich Geburtstag. Mein Vater rief mich an, um mir zu gratulieren, auch meine Geschwister, außer Linda, sprachen kurz mit mir. Meine Mutter hatte sie so beeinflusst, dass sie mich regelrecht hasste. Mein Vater war immer etwas liberaler, als meine Mutter und hätte er erfahren, was in dieser Hölle mit mir passiert ist, hätte er mich sofort nach Hause geholt. Er starb Ende 2014 an Krebs. Ich konnte mich nicht einmal verabschieden, meine Mutter hat es mir gar nicht erzählt und mich auch nicht für die Beerdigung abgeholt. Bis heute kann ich ihr das nicht verzeihen. Zwei Wochen nach dem Tod meines Vaters, wollte ich mir das Leben nehmen. Das war ein Fehler, denn so bestätigte ich, dass meine Psyche doch nicht wirklich gesund war. Bis zu dieser Sache war ich ein relativ normaler Teenager, beziehungsweise eine relativ normale, junge Erwachsene, ich hätte mich auch als glücklich bezeichnet. Von da an musste ich täglich zum Psychologen, was auch bedeutete, dass ich täglich missbraucht wurde. Ich hatte jede Hoffnung verloren, aber da stand Liam plötzlich in der Tür. Er wurde auch wieder in die Heilanstalt gebracht, weil er eine Freundin hatte. „Na, auch mal wieder eingesperrt?", fragte der mittlerweile sechzehnjährige und grinste mich an. Liam und ich teilten uns ein Zimmer. Für ihn war die ganze Sache besonders schwierig, da er dauerhaft mit seinem Mädchennamen angesprochen wurde. Nachts weinte er leise, also legte ich mich zu ihm und tröstet ihn. Für ihn war auch die Therapie schlimmer, als für mich, da er ja gar keine Frau war, aber als Frau behandelt und auch missbraucht wurde. Ab diesem Zeitpunkt hasste er seinen Körper noch mehr.
Ich hatte gelernt, mich zu verstecken. Irgendwann durfte ich Hilfsarbeiten für die Erzieher erledigen und ein Erzieher nahm mich regelmäßig mit zum einkaufen. Eines Tages lief ich zufällig durch den Gang mit den Therapieräumen. Ein Erzieher sagte mir, dass ich die Sitzung beobachten soll. Er starrte ganz gebannt durch das Fenster. Da er dachte, dass ich jetzt wieder hetero war, sollte das wohl eine Art Belohnung sein, aber es war das schlimmste, was ich je erlebt hatte. Ich hörte die Schreie von Liam und konnte gar nicht hinschauen. In diesem Moment beschloss ich, dass ich etwas unternehmen müsste. Eines Nachts flohen wir und mussten uns mit kleineren Diebstählen über Wasser halten. Irgendwann reichte aber auch das nicht mehr aus und wir planten einen Banküberfall. Zugegeben, der Plan war nicht perfekt. Ich bin durchgedreht, als die Polizei plötzlich aufgetaucht ist. Liam wollte von Anfang an keine Waffe mitnehmen, aber ich habe mich durchgesetzt. Wären die Polizisten nicht aufgetaucht, wäre vermutlich alles gut gegangen. Ich bin einfach durchgedreht und habe vier Polizisten erschossen, danach sind wir geflüchtet. Naja, zumindest haben wir es versucht. Ein Polizist hat Liam in sein Bein geschossen. Ich bin natürlich bei ihm geblieben und so wurden wir beide verurteilt.
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True colors | LGBTQ
Teen Fiction»Erfahrung ist der Name, den wir unseren Fehlern geben.« Ich war nie so wie die anderen und ich wollte auch nie normal sein. Vielleicht waren Liam und ich deshalb füreinander geschaffen.