„Sag' schon, Amy. Du wirkst so anders in letzter Zeit. Bist du verliebt?", fragt Linn und grinst mich an. „Quatsch, was denkst du denn von mir? Den letzten Beziehungsstress habe ich noch nicht wirklich verarbeitet und da soll ich mich ernsthaft schon wieder verliebt haben? Never. Das tue ich mir so schnell nicht noch einmal an. Vielleicht wäre eine Affäre etwas für mich, aber mehr auch nicht.", entgegne ich schockiert. „Wenn du das denkst. Wäre denn auf unserer Station gerade niemand da, den du attraktiv findest?", fragt meine Mitgefangene neugierig. „Wen soll ich denn bitteschön attraktiv finden? Jules vielleicht? Nein, für mich ist momentan niemand dabei.", schieße ich zurück. Wir laufen gerade von der Arbeit zurück auf unsere Station. Tyria steht vor der Zellentür von Liam und ich renne sofort los, da ich eine ganz üble Vermutung habe, was da in der Zelle vor sich geht. „Amy, warte auf mich!", brüllt Linn durch den gesamten Flur. Ich denke gar nicht daran, wahrscheinlich will sie mich sowieso nur aufhalten. In der Zelle ziehe ich die aggressive Jules von meinem Exfreund herunter. „Lass dich bloß nie wieder hier blicken!", rufe ich wütend und stemme mein gesamtes Gewicht gegen die Person, die ich in diesem Moment so sehr hasse. Jules verlässt tatsächlich die Zelle und ich versorge die Wunden von Liam. Er ist kaum ansprechbar. „Amy, was zum Teufel ist nur los mit dir?", fragt Linn, die mittlerweile keuchend angekommen ist. „Ist es das, was ihr wolltet? Liam ist fast tot, drückt wenigstens den Alarmknopf!", schreie ich panisch. Rita, die inzwischen auch in der Tür steht, drückt den Knopf tatsächlich. Zwei Minuten später wird Liam auf die Krankenstation gebracht. Ich will den Beamten unbedingt hinterher rennen, aber unser Boss hält mich fest. Sofort breche ich auf dem Boden zusammen. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Rita und Linn eine ganze Weile tuscheln. „Amy, ich muss einfach hart bleiben. Ich kann nicht andauernd Ausnahmen machen. Irgendwann ist einfach Schluss.", teilt mir Rita mit.
Die nächsten Tage sind für mich nicht wirklich als solche erkennbar, denn ich wandere durch die Gänge und bin eigentlich geistig total abwesend. Rita und Linn beobachten mich ein bisschen wehmütig. „So kann das wirklich nicht weitergehen.", flüstert Linn eines Nachmittags, als ich vor lauter Träumereien gegen eine Glastür laufe. Ich spreche nicht. Weder mit ihr, noch mit Rita, ich rede mit niemandem. Ich hatte das früher schon mal, also, dass ich mit niemandem gesprochen habe, dass ich in meiner eigenen Welt gefangen war und so ein Zeug. „Amy, Mäuschen, das kann einfach nicht gesund sein. Würdest du bitte wenigstens irgendwann mit uns reden?", fragt sie und schaut mich ein bisschen traurig an. Ich zucke nur teilnahmslos mit den Schultern und klatsche gegen die nächste Tür. Linn schüttelt nur verständnislos den Kopf und ich kann genau erkennen, dass sie hilflos zu Rita schaut, die in unserem Gemeinschaftsraum sitzt und Tee trinkt. „Du weißt ganz genau, dass wir da nichts machen können. Linn, du kannst sie nicht alle retten. Manchmal ist es eben an der Zeit, sie loszulassen. Amy ist wirklich alt genug und ich glaube, sie macht gerade eine Phase durch, in der sie nicht mit uns reden möchte oder es eben nicht kann. Wir sollten ihr die Freiheit lassen, sich selbst zu entscheiden, wann sie wieder bereit ist, mit uns zu reden. Vielleicht ist es auch ein rein psychischer Prozess und sie kann es wirklich nicht. Sollte sie es aber nicht wollen, möchte ich sie auf keinen Fall dazu drängen und das solltest du auch nicht.", erklärt Rita nachdenklich, als Linn ein paar Schritte auf sie zu läuft. „Aber jetzt mal ernsthaft. Sie tut dir doch auch leid. Amy kommt nicht im Gefängnis klar, egal was sie behauptet und wie taff sie tut. Ganz tief im Inneren ist sie ein sehr verletzliches Mädchen.", entgegnet meine Mitgefangene. Von der Unterhaltung bekomme ich nicht allzu viel mit, denn für mich hört sich alles an, als wäre die Welt in Watte eingepackt und als würde ich durch einen Schleier schauen.
Dieser Zustand hält ein paar Tage an und er bessert sich nicht, da mein Exfreund noch immer auf der Krankenstation liegt und niemand zu ihm darf. Nicht einmal ich, obwohl ich ihm gar nichts getan habe, ich habe ihn sogar eigentlich gerettet, aber trotzdem herrscht eine strikte Kontaktsperre. Ich weiß es nicht, ich kann absolut nicht erklären, wie das passiert ist, aber eines Morgens wache ich plötzlich vor der Krankenstation auf. „Amy, bist du hier?", fragt Linn leise. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Auf einmal bin ich hier aufgewacht, kannst du mir sagen, was letzte Nacht war?", frage ich verwirrt. „Nein, das kann ich nicht. Du musst wohl Schlafgewandelt sein, aber genau kann ich es dir auch nicht erklären.", antwortet meine Mitgefangene traurig. Dann gibt sie mir ihre Hand und wir machen uns gemeinsam auf den Weg zu meiner Zelle. „Du musst dich langsam wieder einkriegen. Ich weiß ganz genau, dass dich die Sache mit Liam belastet, aber du darfst dich davon nicht mehr so beeinflussen lassen.", erklärt sie zähneknirschend. Natürlich weiß ich, dass das nicht normal ist und ich weiß auch, dass Linn sich nur Sorgen macht, aber meine Sorge um Liam ist nun einmal größer. So gerne möchte ich einmal mit ihm reden oder wenigstens nur wissen, wie es ihm geht, aber niemand sagt mir etwas. Das ist verdammt unfair, denn ich habe ihm nichts getan, er ist mir doch so wichtig, egal was er oder irgendjemand anderes getan hat. In den nächsten zwei Wochen wache ich jeden Morgen vor der Krankenstation auf und Linn bringt mich jeden Morgen zurück. Dabei wirkt sie jeden Morgen etwas betretener. „Du magst vielleicht denken, dass das normal ist, aber das ist es ganz und gar nicht. Amy, ich habe das Gefühl, dass deine Psyche nicht damit klarkommen, dass du Liam nicht siehst. Ich weiß, dass du ihn sehr vermisst, aber was kann ich tun, dass du nicht jeden verdammten morgen vor dieser Scheiß Krankenstation aufwachst und ich dich heimlich zurückbringen muss? Rita wird langsam echt misstrauisch.", flüstert meine Mitgefangene und stützt mich auf dem Weg in meine Zelle.
Ungefähr drei Tage später kommt mein Exfreund zurück auf die Station. Ich möchte ihn eigentlich umarmen, aber dazu kommt es nicht, denn Linda schließt ihn direkt ein. „Was soll das denn? Er hat doch gar nichts gemacht, warum schließen Sie ihn ein?", frage ich verwirrt. „Vielleicht, wenn Sie nicht andauernd nur an sich denken würden, würden Sie auf die Idee kommen, dass wir Liam eventuell auch beschützen wollen. Was würde wohl passieren, wenn wir ihn auf die Frauen loslassen? Entweder würde Rita ihn noch einmal bestrafen oder die anderen Frauen würden auf ihn losgehen. Da ich nicht besonders viel Lust habe, Massen an Papierkram auszufüllen, wird Liam seine Zelle nicht verlassen.", herrscht mich die Beamtin an. „Ist ja schon gut, beruhige dich.", versuche ich Linda zu beschwichtigen, aber sie möchte sich wohl gerade aufregen und ich bin nur der letzte Grund, der bei ihr das Fass zum überlaufen gebracht hat. Jules und Gang lauern vor der Zelle, ich versuche sie wegzuscheuchen, aber sie lachen mich nur aus, denn auf mich wollen sie nicht hören. „Kommt schon, was wollt ihr von ihm?", fragt Rita und Jules trottet langsam mitsamt ihrer Gang zurück auf ihre Station. Für einen ganz kleinen Augenblick habe ich ein bisschen Hoffnung, dass unser Boss Gnade walten lässt und Liam nicht mehr für vogelfrei erklärt. Aber wie üblich, habe ich mich getäuscht. „Ich kann das wirklich nicht machen, er hat mich verraten und wie würde ich da stehen, wenn ich jetzt sagen würde, dass alles wieder in Ordnung ist? Dann würden mich die Mädels reihenweise verraten und das möchte ich nicht.", erklärt unser Boss und ich laufe zähneknirschend in meine Zelle.
„Liam, wie geht es dir? Kann ich etwas für dich tun? Diese verdammten Idioten lassen mich nicht zu dir!", rufe ich empört durch die geschlossene Zellentür. „Lass mich bitte in Ruhe. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Mit der Aktion wirst du sicher wieder den ganzen Hass auf dich ziehen. Rita wird davon nicht begeistert sein und die anderen Insassinnen werden dich hassen. Es ist zu deiner Sicherheit, halte dich bitte von mir fern.", bittet mich mein Exfreund und ich höre die Angst in seiner Stimme. Auch in den nächsten Tagen bleibt seine Tür geschlossen. Das Essen bringt ihm ein Beamter und nach Einschluss darf er eine halbe Stunde in den Hof. Ich sehe ihn jeden Abend von meiner Zelle aus, ich stehe am Fenster und winke unauffällig, wenn der Beamte mal kurz auf sein Handy schaut. Wenn er wieder in seiner Zelle ist und eingeschlossen wurde, schnappe ich mein Bettzeug und schlafe vor seiner Zelle. Sobald der erste Beamte die Station betritt, bin ich schon wieder in meiner Zelle verschwunden. Natürlich bleibt das nicht lange unbemerkt. Eines Nachts werde ich von Linn geweckt. „Du weißt, dass Rita es nicht toleriert, wenn du mit ihm Kontakt aufnimmst.", stellt meine Mitgefangene fest. „Ich rede nicht mit ihm, ich schlafe nur hier.", erkläre ich und Linn scheint vorerst etwas besänftigt zu sein.
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True colors | LGBTQ
Teen Fiction»Erfahrung ist der Name, den wir unseren Fehlern geben.« Ich war nie so wie die anderen und ich wollte auch nie normal sein. Vielleicht waren Liam und ich deshalb füreinander geschaffen.