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Keiner hatte größere Probleme mit Liam, als er selbst. Ich spüre seltsamerweise, wie die Einsamkeit aus ihm herausströmt, ich kann nicht erklären, wie das passiert und diese Einsamkeit haut mich um, wie eine Welle, die man unterschätzt hat. „Irgendwann wird das alles vorbei sein und du wirst wieder glücklich.", verspreche ich eines Abends. „Man kann die Augen vor Tatsachen verschließen, aber nicht vor Erinnerungen.", entgegnet er traurig. Seit wann ist Liam so melancholisch? „Was ist denn plötzlich los mit dir? Das macht mir Angst.", erwidere ich panisch. „Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet.", flüstert mein Exfreund und ich höre, wie er sich in sein Bett legt. Geknickt verschwinde ich in meiner Zelle. Ein gutes Gefühl habe ich nicht, aber da mir niemand hilft, kann ich Liam auch nicht helfen. Diese Nacht ist die reinste Hölle für mich, ich kann nicht schlafen, ich kann nicht richtig entspannen, meine Gedanken drehen sich nur um ihn. Wie es ihm wohl jetzt gehen mag? Ich habe auch Angst, dass ihm etwas passiert. Vermutlich muss ich ziemlich unruhig gewesen sein, denn irgendwann steht Linn in meiner Zelle. Sie weiß natürlich schon längst, was los ist, ihr Blick schweift durch meine Zelle und sie greift nach einem Buch, das auf dem Boden liegt. Liam hat es mir einmal geschenkt, weil er die Message des Buches so wahnsinnig schön fand. „Jonas blickte traurig auf den Boden. 'Wenn du wiederkommst, werde ich nicht mehr hier sein, aber das ist kein Abschied für immer, das ist nur der Lauf der Welt.', sagte die Sonnenblume zu dem Jungen und so war es. Jonas erinnerte sich an die Worte der Sonnenblume und war keineswegs traurig, er blickte in den Himmel und lächelte.", liest mir meine Mitgefangene vor, während sie mich im Arm hält. In diesem Moment fühle ich mich wieder wie ein Kind, nur hat mir meine Mutter nie etwas vorgelesen, sondern immer nur mein Vater. Linn streicht mir über den Kopf, ich weiß ganz genau, wie schlecht sie sich fühlt und ausnahmsweise lasse ich es zu.

„Ich kann mir das ganze einfach nicht mehr ansehen.", flüstert Linn unserem Boss zu. „Ich weiß, denkst du, ich wüsste das nicht? Mir geht es doch genauso. Ich bin tatsächlich am überlegen, meine Prinzipien über Bord zu werfen und ihr einfach zu erlauben, kurz mit Liam zu sprechen.", entgegnet Rita und knabbert an ihren Fingernägeln. „Wenn Jules das mitbekommt, sind wir wahrscheinlich beide am Arsch. Sie wartet nur darauf, dass du einen Fehler machst und sie dich als Boss ablösen kann. Vielleicht solltest du doch weiterhin deine strenge Linie fahren. Im Endeffekt wusste er es wirklich, er hat sich deinen Regeln widersetzt und dafür muss er bestraft werden.", erwidert Linn nachdenklich. „Ja, das stimmt schon, aber bevor Amy sich etwas antut, sollte ich vielleicht doch nachgeben.", überlegt sie. In dieser Nacht schläft wahrscheinlich keiner von uns wirklich gut. Als ich am nächsten Morgen aufwache, mache ich mich sofort auf den Weg zu einer bestimmten Zelle. Rita packt mich an der Schulter. „Hör mir mal zu. Du musst es zwar heimlich machen, aber du kannst kurz mit ihm sprechen.", flüstert sie mir zu. Ich schaue unseren Boss mit großen Augen an und sie schubst mich in die Richtung der Zelle von Liam. „Fünf Minuten, mehr nicht. Und verhalte dich unauffällig, sonst bekommen wir alle Stress.", zischt sie mir zu. Ich bin Rita in diesem Augenblick so unfassbar dankbar, ich hätte nicht gedacht, dass sie ihre eigenen Regeln bricht. Dafür könnte ich sie abknutschen, aber vorerst werde ich mich für diese doch sehr kurze Zeit um Liam kümmern. Als ich die Zelle betreten habe, kann ich nicht glauben, was ich da sehe.

Liam liegt an diesem verregneten Sonntagmorgen tot in seiner Zelle, er hat sich das Leben genommen, einfach so. Ich bin zu geschockt, um zu weinen, aber ich bin sauer. Ich bin so wahnsinnig sauer auf ihn. Warum hat er nicht mit mir geredet? Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Ich hätte ihm doch helfen können. Außerdem war es doch jetzt soweit und Rita hat mir erlaubt, mit ihm zu sprechen. Aber er hat es nicht mehr ausgehalten. Am Ende braucht man wohl doch mehr Mut, um zu leben, als sich das Leben zu nehmen. „Warum zum Teufel hast du das gemacht? Du bist so ein verdammter Idiot. Ich habe dir oft genug angeboten, mit mir zu reden, warum hast du das nicht gemacht?", flüstere ich, obwohl ich ganz genau weiß, dass er mir nicht antworten wird. Vorsichtig greife ich nach seiner Hand, sie ist schon ganz kalt. Irgendwie finde ich das total eklig, aber ich möchte mich von ihm verabschieden. In seiner Hand ist ein Zettel, den stecke ich mir schnell in die Hosentasche, bevor ihn jemand anderes findet. Dann nehme ich meinen Exfreund in den Arm. Ich habe wahrscheinlich nie aufgehört, ihn zu lieben. Erst habe ich ihn geliebt, wie einen Partner, dann wie einen besten Freund. Dass er jetzt nicht mehr da ist, dass er wahrscheinlich nie wieder einen blöden Spruch bringen wird oder mich nie wieder aufregen wird, das kann ich noch nicht verstehen, das möchte ich einfach noch nicht begreifen. „Aufstehen, sonst bekommst du kein Frühstück mehr.", bemerkt Miss Ducat. Zuerst scheint sie nicht zu realisieren, was da vor sich geht. als sie es dann bemerkt hat, wird sie augenblicklich total blass. „Was ist hier passiert?", fragt sie panisch. Sie hat nur solche Angst, weil es zu ihrem Nachteil ausgelegt werden wird, denn Liam ist während ihrer Nachtschicht gestorben. Ich rede nicht mit ihr, ich umklammere noch immer meinen Exfreund. Sie ruft Verstärkung und ungefähr zwei Minuten später werde ich von zwei Beamten von Liam getrennt. Ich brülle den Beamten sämtliche Beleidigungen entgegen und ich wehre mich. Das hat zur Folge, dass Miss Ducat mir Pfefferspray in mein Gesicht sprüht. Die Beamten bringen mich sofort auf die Krankenstation, wo mich Tara versorgt. Als ich wieder halbwegs sehen kann, bekomme ich Besuch von einer Frau, die ich noch nicht kenne. Ich muss allerdings zugeben, dass sie sehr hübsch aussieht. „Hallo Amy, ich bin Maxine, die neue Therapeutin. Heute ist mein erster Tag. Wie geht es Ihnen?", fragt sie. „Das ist eine ziemlich bescheuerte Frage, das wissen Sie doch selbst, oder? Mein bester Freund ist tot. Wie soll es mir da schon gehen? Luftsprünge finde ich jetzt ziemlich unangebracht.", entgegne ich sarkastisch. „Ich weiß, das tut mir auch sehr leid. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns regelmäßig sehen, damit Sie Strategien lernen, um besser mit ihrer Trauer umzugehen.", erwidert Maxine. Ich nicke gleichgültig. Die Gefängnisleitung hat wahrscheinlich nur Angst, dass ich mir auch das Leben nehmen könnte. Das ist eigentlich gar kein schlechter Gedanke, dann wäre ich nämlich wieder bei meinem Dad und bei Liam, aber ich würde wahrscheinlich von beiden ziemlichen Ärger bekommen.

Ein paar Tage später darf ich dann auch endlich wieder die Krankenstation verlassen, gerade rechtzeitig zur Trauerfeier von Liam. Rita hält eine wunderschöne Rede, auch ihr ist der Tod von Liam wahnsinnig nahe gegangen. „Als Amy und Liam hier her kamen, dachte ich eigentlich, dass wir nicht so viel, aber schon bei ihrer Einlieferung haben sie sich Stress eingehandelt. Das ganze war schon etwas erfrischend, wie die meisten lebenslänglichen hier wissen, ist der Alltag oft ziemlich langweilig. Amy und Liam hatten richtig Pfeffer im Hintern, vor allem, als sie noch zusammen waren. Schnell sind die beiden von Fremden zu Freunden geworden und ich bin normalerweise nicht so der Fan von Menschen. Liam hatte viele Probleme, nicht bei allen konnten wir ihn unterstützen. Liam, es tut mir so wahnsinnig leid, dass ich die Anzeichen nicht bemerkt habe. Eigentlich hast du dauerhaft stumme Hilfeschreie abgesendet, aber ich habe nicht darauf gehört, ich habe es nicht bemerkt. Vielleicht wollte ich es auch nicht bemerken, weil ich so gekränkt war. Du warst mir so wichtig und deswegen hat das ganze wahrscheinlich noch mal mehr weh getan. Falls es ein Himmel gibt, bin ich mir sicher, dass du dort bist. Vielleicht ist es etwas kindisch von mir, aber ich glaube, jedes Mal, wenn die Sonne scheint, lächelt uns ein Verstorbener zu. Ab jetzt haben wir alle eine Person, die uns zulächelt. Ich vermisse dich.", sprudelt es aus ihr heraus. Ich glaube nicht, dass sie sich großartig Gedanken darüber gemacht hat, was sie sagen möchte und deshalb finde ich ihre Rede umso schöner. Eigentlich möchte ich unserem Boss sagen, wie schön das alles war, wie schön ich die Rede fand, aber ich kann nicht. In meiner Kehle sitzt ein dicker Kloß und meine Beine sind plötzlich so schwer. Mein ganzer Körper ist unheimlich schwer und bevor ich überhaupt bemerke, was das ist, bin ich zusammengebrochen. Linn und Rita stürmen sofort auf mich zu, ein Beamter trägt mich zur Krankenstation.

Maxine kümmert sich um mich und jeden Tag redet sie mit mir und irgendwann geht es mir besser. Natürlich dauert das ganze ziemlich lange, ich verbringe fast einen Monat auf der Krankenstation. Anfangs werde ich mit Medikamenten vollgepumpt, aber irgendwann geht es sogar ohne die Pillen. Dass ich keine Medikamente mehr brauche, schaffe ich nur mit der Unterstützung von Maxine, sie ist wirklich wahnsinnig nett. Sie scheint auch wirklich zu verstehen, von was sie da redet. Bei ihr fühle ich mich unglaublich wohl. Langsam akzeptiere ich, dass Liam nicht mehr da ist. Auch wenn es mir noch wahnsinnig schwer fällt, ohne ihn zu leben, verstehe ich, dass er eigentlich gar keine andere Wahl hatte. Er war das Opfer dieser brutalen Gefängnisregeln. Anfangs habe ich auch Rita die Schuld gegeben, aber nachdem sie mir erklärt hat, dass sie sonst von Jules abgelöst worden wäre, habe ich ein kleines bisschen Verständnis. Niemand würde Jules als Boss haben wollen. Linn darf mich nach zwei Wochen endlich besuchen, ab da kommt sie jeden Tag vorbei und erzählt mir die neuesten Klatsch und Tratsch. Eigentlich bin ich gar nicht daran interessiert, aber es trägt auch dazu bei, dass ich mich wieder normal fühle. die Gespräche mit Maxine tun ihr übriges. Sie ist sehr kompetent, wobei ich jetzt wirklich nicht von ihr schwärmen will. Für eine Therapeutin ist sie ganz nett, wahrscheinlich bin ich aber auch nur der Meinung, weil ich bis jetzt nur Therapeuten kennen gelernt habe, die mich für irgendetwas ausgenutzt, mich missbraucht oder misshandelt haben. Ich würde nicht von mir behaupten, dass es mir besonders gut geht, aber es geht mir besser und ich denke, dass ich auf einem sehr guten Weg bin.

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