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Am Montag laufe ich deprimiert in meine Zelle. Die Arbeit war heute total doof und Liam ist auch noch nicht zurück. Als ich mich in mein Bett legen und vor der Welt verstecken will, liegt da aber schon jemand. „Na, schöne Frau, Sie sehen aber sehr bedrückt aus. Gleichzeitig sind Sie aber auch so wunderschön und sexy. Sind Sie öfter hier?", fragt mein Freund und grinst mich an. Ich hüpfe sofort in mein Bett und umarme ihn. „Wie geht es dir? Das ganze tut mir so wahnsinnig leid. Hast du noch schlimme Schmerzen?", frage ich. Mein Freund zuckt mit den Schultern, aber er scheint schlimme Schmerzen zu haben. Sofort bekomme ich wieder wahnsinnige Schuldgefühle, aber Liam tröstet mich. „Du hast gar nichts falsch gemacht, ich hätte vermutlich genauso gehandelt. Mach dir keine Vorwürfe.", bestärkt er mich. Wir liegen den ganzen Abend im Bett und kuscheln. Das Abendessen lassen wir ausfallen und wir vergessen alles um uns herum. Am nächsten Morgen werden wir schon früh von Rita geweckt. „Aufstehen, wir müssen etwas wichtiges mit euch besprechen.", erklärt sie und wir stehen auf. „Was will sie von uns?", fragt Liam besorgt. „Ich befürchte, dass sie uns für die Abtreibung bestrafen will.", entgegne ich. Logisch wäre es schon, Rita reagiert sehr sensibel darauf, wenn Kindern etwas geschieht. Andererseits war das Kind gar nicht gewollt und es war auch noch gar kein Kind, sondern nur ein komischer Zellklumpen, zumindest habe ich das in Biologie so gelernt. „Hast du Angst?", fragt Liam und ich nicke. „Ich habe auch Angst. Vielleicht hätten wir auch vorher schon mit Rita reden sollen.", ergänzt mein Freund. „Naja, ich weiß nicht, wie Rita in der Situation reagiert hätte. Deswegen haben wir das gemacht, was uns am logischsten erschienen ist, aber vielleicht war das falsch.", überlege ich. „Jetzt gehen wir erst mal nach draußen und sprechen mit ihr. Vielleicht ist es gar nichts schlimmes.", beruhigt mich mein Freund. Vorsichtig verlassen wir die Zelle, dort steht Linn und umarmt meinen Freund, gleichzeitig drückt sie ihm ein Stück Pizza in die Hand. „Wie schön, dass du wieder bei uns bist. Hast du noch Schmerzen?", fragt Rita. Liam nicht schüchtern und unser Boss umarmt ihn.

Nachmittags werde ich wieder in das Büro der Anstaltsleitung gerufen. Das geht mir eigentlich in letzter Zeit ziemlich auf die Nerven. „Amy, Ihr Bruder hat mit uns Kontakt aufgenommen, er würde sehr gerne mit Ihnen sprechen. Wäre das für Sie in Ordnung? Er klang ziemlich besorgt.", erklärt sie. „Welcher meiner Brüder? Sie müssen wissen, dass nicht alle meine Geschwister wirklich zu mir stehen. Ist es Jason?", frage ich und sie nickt. Ich stimme zu uns informiert meinem Bruder. Jason war schon immer mein Lieblingsbruder, wobei das eigentlich ziemlich fies klingt, aber im Endeffekt war es so. Als wir noch jünger waren, haben wir Höhlen gebaut, sind auf den Pferden unserer Eltern geritten und haben jede Menge Blödsinn gemacht. Einmal im Juli, ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, wurde Jason von einer Schlange gebissen, ich habe ihn nach Hause getragen und gehofft, dass er nicht stirbt. An diesem Morgen waren wir schon früh wach und haben Gemüse aus dem Garten unserer Eltern gegessen, zum Frühstück gab es dann Müsli. Danach sind wir auf den Pferden über die Farm geritten. Beim absteigen wurde Jason dann von dieser blöden Schlange gebissen. Sein Kreislauf brach augenblicklich zusammen, wir konnten nicht zum Haus reiten, also trug ich meinen Bruder auf den Armen, die Pferde hörten zum Glück genau auf mich, sodass ich sie nicht auch noch führen musste. Es hat sich herausgestellt dass mein Bruder von einer Giftschlange gebissen wurde. Hätte ich ihn nicht so schnell nach Hause gebracht und wäre der Arzt nicht so schnell bei uns gewesen, wäre er vermutlich gestorben. Seit diesem Tag sind wir unzertrennlich, also noch mehr als vorher. Ich vermisse meinen Bruder so sehr. Er war immer der ruhigste von allen Geschwistern. Er stand immer zu mir, auch wenn einige meiner Geschwister mir nicht positiv gegenüber standen und meine kleine Schwester mich sogar gehasst hat. Jason ist ein guter Mensch und würde ich an Gott glauben, könnte ich sagen, dass er ein Engel ist, der einfach so vom Himmel gefallen ist und unsere Familie gerettet hat.

Am nächsten Freitag werde ich also in den Besucherraum gebracht. Ein bisschen nervös bin ich schon, immerhin habe ich meinen Bruder seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen. „Hallo, Schwesterherz, wie geht es dir? Ist es hier wirklich so, wie sie sagen? Wird hier wirklich alle zwei Tage jemand getötet und wie ist es, wenn sich jemand nach der Seife bückt?", fragt Jason und grinst mich an, wie nur er es kann. Ich fühle mich augenblicklich besser und falle ihm in die Arme. Inzwischen ist er viel größer als ich, was ziemlich ungewohnt ist, denn er war immer mindestens zwei Köpfe kleiner. „Was ist denn eigentlich alles passiert, seit ich nicht mehr da bin?", frage ich lächelnd. Das Grinsen auf dem Gesicht meines Bruders verschwindet sofort. „Hat es dir niemand gesagt? Mama ist krank und sie wollte eigentlich noch mal mit dir sprechen. Sie hat Kontakt mit Anstaltsleitung aufgenommen und da von dir keine Antwort kam, bin ich jetzt hier.", antwortet er. „Schön, also bist du nur deswegen hier. Außerdem, was soll ich jetzt mit dieser Information anfangen? Sie ist mir egal und das weißt du.", erwidere ich. „Naja, ich dachte, dass du das vielleicht wissen willst. Immerhin ist sie unsere Mutter.", entgegnet Jason nachdenklich. „Nur weil diese schreckliche Frau zufällig die gleiche DNA hat, wie ich, ist sie noch lange nicht meine Mutter. Sie ist meine Erzeugerin, aber mehr auch nicht. Ich habe ihr absolut nichts mehr zu sagen.", stelle ich gekränkt klar. Mein Bruder beobachtet mich traurig. Er möchte doch nur, dass sich alle wieder vertragen. Jason ist ein ziemlich friedlicher Junge, jetzt ist er natürlich ein friedlicher Mann und irgendwie finde ich das ein bisschen komisch, bei der Mutter hätte eigentlich nur schrecklich werden können, er scheint mehr nach unserem Vater zu schlagen, wie ich. Deswegen liebe ich ihn noch mehr.

„Ich glaube, Mama würde sich freuen, wenn sie dich noch einmal sehen kann. Vielleicht könnt ihr wenigstens einmal telefonieren. Ich verlange doch gar nicht, dass ihr euch wieder miteinander vertragt, aber vielleicht könnt ihr euch aussprechen oder zumindest ein paar Worte wechseln.", schlägt Jason vor. „Ist sie wirklich so schwer krank?", frage ich nachdenklich. „Sie wird wahrscheinlich bald sterben. Mama ist friedlich geworden, sie ist auch gar nicht mehr böse auf dich.", erklärt er und nimmt meine Hand. „Ganz toll, dass sie nicht mehr böse auf mich ist. Jason, ich hatte zu dem Zeitpunkt noch niemanden getötet, ich war einfach nur lesbisch. Das ist doch kein Verbrechen. Sie hat mich aber abgeschoben und gehofft, dass mich irgendwelche Therapeuten heilen können. Spoiler, das hat nicht funktioniert.", erwidere ich. „Du kannst es doch wenigstens einmal versuchen oder es dir überlegen. Ich stehe übrigens zu dir, egal ob du auf Frauen, Männer oder Aliens stehst. Ich liebe dich, du bist meine Schwester und du bist mir verdammt wichtig.", flüstert mein Bruder und umarmt mich. Er ist schon in Ordnung, er möchte nur, dass ich mir nicht irgendwann Vorwürfe mache, dass ich mich nicht mehr von unserer Mutter verabschieden konnte. Darauf kann er aber lange warten, denn ich vermisse sie nicht und ich werde mich auch nicht mit ihr in Verbindung setzen, denn das, was sie mir angetan hat, überschreitet jegliche Grenzen.

Nachdenklich laufe ich zurück zu meiner Zelle. Sollte ich meine Mutter vielleicht doch anrufen? Ich kann ihr natürlich nicht verzeihen, was sie getan hat. Ich empfinde eigentlich auch gar kein Mitleid oder so. Als ich zurück auf der Station bin, höre ich ein leises weinen aus der Telefon Rita. Vorsichtig klopfe ich an die Tür. „Verpiss dich.", ertönt es aus der Zelle. „Rita, hier ist Amy. Was ist los?", frage ich. Eine Weile höre ich nichts. Ich mache mir Sorgen, also betrete ich zögernd die Zelle. Promt fliegt mir ein Kissen ins Gesicht. Ich habe Rita noch nie so gesehen. Sie ist total verheult und ich setze mich vorsichtig zu ihr. Nach ein paar Minuten schaut sie mich an. „Es ist wegen meinem Jungen. Heute ist dein fünfter Todestag. David fehlt mir so.", flüstert sie und weint. Ich kann natürlich nicht im entferntesten nachvollziehen, wie es sein muss, sein Kind zu verlieren. Für solche Situationen sollte es Ratgeber geben, die genau erklären wie man sich in diesem besonderen Fall verhalten soll. Vorsichtig nehme ich Rita in den Arm. Sie mag eigentlich keine Umarmungen, aber sie lässt sich in meine Arme fallen. Ich tröste sie, wobei ich denke, dass man in dieser Situation nie die richtigen Worte findet. In dieser Nacht schlafe ich bei unserem Boss und beruhige sie. Rita macht in dieser Nacht kaum ein Auge zu, sie hat schreckliche Albträume und ich kümmere mich auch am nächsten Tag um sie.

„Und dann war sie von bis unten voll mit Waschmittel, als hätte man sie komplett vollgew-", beginne ich mit meiner absolut witzigen Geschichte, von der ich denke, dass sie meinen Freund wirklich zum Lachen bringt, werde aber von Liam unterbrochen. Er packt mich erschrocken am Arm. So geschockt habe ich noch nie gesehen. „Amy, was ist hier los?", fragt er verwirrt. Er blickt sich verwundert auf der ganzen Station um. Jetzt sehe ich es auch. Auf unserer Station herrscht ein absoluter Ausnahmezustand. Überall rennen Beamte umher. „Schnell, geht in eure Zellen und verhaltet euch ruhig!", ruft uns eine Beamtin entgegen und sperrt uns ein. „Sind Sie komplett bescheuert?", brülle ich ihr entgegen. „Jetzt Mach keinen Stress und beweg deinen Hintern in die Zelle!", entgegnet sie ruppig. „Was ist hier eigentlich los?", fragt Linn verwirrt, die gerade vom telefonieren kommt. „Jetzt hören Sie wenigstens auf mich. Es herrscht ein Ausnahmezustand und Sie müssen alle auf die Zellen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das alles, was ich Ihnen sagen kann.", erklärt die Beamtin gestresst. „Und mehr können Sie uns nicht sagen? Ist das Ihr scheiß Ernst?", fragt Rita, die sich jetzt auch einmischt. Das war wohl zu viel. Die Beamtin ruft Verstärkung und augenblicklich werden wir in unsere Zellen geprügelt. „Was ist hier verdammt nochmal los?", brülle ich durch die geschlossene Zellentür. „Ein Kollege von uns wurde getötet und ihr werdet so lange hier drin bleiben, bis sich das Ganze geklärt hat.", schreit ein Beamter durch meine Tür zurück.

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