Als ich dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit wieder zurück auf die Station komme, höre ich sehr aufgeregte Stimmen. „Lass das, das mag sie nicht.", zischt Rita, die heute besonders nervös wirkt. „Ist ja gut, du bist wirklich aufgeregt.", entgegnet Linn leise. Ich warte noch fünf Minuten, bevor ich die Station betrete. Rita würde sonst wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen. „Amy, du bist ja schon hier!", ruft sie erschrocken. „Du glaubst gar nicht, was Rita für einen Aufstand veranstaltet hat.", bemerkt Linn und grinst mich an. Unser Boss zieht mich in meine Zelle, die seltsamerweise mit Fotos von Alpakas, meinen absoluten Lieblingstieren und Island, meinem absoluten Lieblingsland dekoriert ist. Dazwischen finde ich Fotos von nackten Frauen, die hat bestimmt Linn aufgehängt und die Fotos von Island und den Alpakas sind garantiert von Rita. „Endlich bist du wieder bei uns. Wie geht es dir?", fragt sie und schaut betreten auf meine Hände, die immer noch eingewickelt sind. „Mir geht es schon besser, sonst wäre ich wohl kaum hier.", entgegne ich. Unser Boss nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. „Es tut mir so unfassbar Leid.", flüstert sie. Ich versichere ihr, dass ich ihr nicht böse bin. „Die Idee mit den nackten Frauen stammt übrigens von Linn und nicht von mir.", erklärt Rita. „Na das war mir schon klar. Aber du hast mir die anderen Fotos aufgehängt.", stelle ich fest. „Wir dachten, dass die Fotos von Liam und dir, dich wahrscheinlich unglücklich machen würden. Ich habe sie aber in einer Box in meiner Zelle aufgehoben, falls du sie irgendwann mal anschauen willst.", erklärt unser Boss. Ich umarme sie und bedanke mich. Wir reden noch eine ganze Weile und als wir wieder raus kommen, hat Linn einen Kakao für mich gemacht. „Es ist schön, dass du wieder bei uns bist.", flüstert Linn und lächelt mich an.
Am Wochenende bekomme ich wieder Besuch von meinem großen Bruder. Ich habe ihn wahnsinnig vermisst, aber er schaut natürlich direkt auf meine Hände und erschreckt sich, was ich irgendwie verstehen kann. „Amy, was zum Teufel hast du mit deinen Händen gemacht? Warum hast du da einen Verband? War das eine von den anderen Frauen oder Liam? Das sieht ja schrecklich aus!", ruft Jason und schaut mich richtig erschrocken an. „Das war gar nichts. Also nichts schlimmes zumindest. Ich habe gegen die Regeln verstoßen und wurde dafür bestraft.", erkläre ich. „Amy, das geht gar nicht. Das musst du sofort melden. Dich hat jemand verletzt und dafür muss die Frau bestraft werden!", ruft er aufgebracht. „Mann, Jason, so sind hier eben die Regeln und das ist auch voll in Ordnung. Wenn man sich nicht auf seine Mitgefangenen verlassen kann, auf wen denn sonst? Wir sind hier über Jahre zusammen eingesperrt und wir müssen uns vertrauen können.", entgegne ich und versuche, das Thema zu wechseln, weil ein Außenstehender, und dazu gehört Jason leider einmal, niemals unsere Regeln verstehen würde. „Ich fühle mich so schlecht wegen Liam. Er ist wegen mir in Isolierhaft gelandet. Dabei hat er eigentlich gar nichts schlimmes gemacht.", erkläre ich und erzähle meinem Bruder dann die ganze Geschichte. „Aber so, wie sich das anhört, war das doch keine Absicht von dir. Wurdest du deswegen bestraft?", fragt er und ich lüge, da ich nicht weiter mit Jason über das System mit den Bestrafungen diskutieren will. Mein älterer Bruder erzählt mir, dass unsere Schwester Jamie jetzt eine Freundin hat. Ich freue mich wahnsinnig für meine jüngere Schwester, aber ich freue mich auch, weil unsere Mutter sich darüber total aufgeregt hatte. Insgeheim muss ich total lachen, weil die Erziehung unsere Mutter wohl nicht so wirklich funktioniert hat. Janis macht ihrem Namen alle Ehre und raucht Gras, Jamie ist pansexuell und hat jetzt eine Freundin, ich bin lesbisch und mein Bruder Jason toleriert das. Zumindest vier ihrer Kinder sind normal, zumindest halten wir uns für normal, aber in den Augen unserer Mutter wären wir wohl eine Schande.
„Liam, du bist endlich zurück, damit haben wir ja gar nicht gerechnet!", ruft Linn erfreut. Schüchtern verlasse ich meine Zelle und erwarte, dass Liam im nächsten Augenblick auf mich losgeht oder etwas ähnliches. „Hey, Liam. Kann ich vielleicht mal kurz mit dir reden?", frage ich schüchtern. Mein Exfreund nickt, aber irgendetwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Ich schiebe es zuerst auf die Isolierhaft. „Ich wollte das wirklich nicht, es tut mir so unfassbar Leid.", flüstere ich. „Ich weiß das, Amy. Es ist schon in Ordnung. Du warst verletzt und du hast mich ja nicht direkt verraten. Dass du es Miss Ducat erzählt hast, war vielleicht nicht die beste Idee. Am besten hättest du es jemand anderem erzählt, aber daran lässt sich jetzt auch nichts mehr ändern.", entgegnet Liam. „Was ist eigentlich mit dir und Miss Ducat? Warum hasst ihr euch so sehr?", frage ich. „Sie hasst mich, weil ich Drogen genommen habe, das steht natürlich in meiner Akte. Deswegen behandelt sie euch so gut und mich so schlecht.", antwortet er. „Also stimmt das wirklich, was du erzählt hast?", frage ich und habe ein sehr schlechtes Gewissen. „Das ist noch gar nicht das Schlimmste. In der Iso kam sie jede Nacht und hat mir gesagt, dass ich total wertlos bin.", erklärt mein Exfreund. „Das ist echt krass. Du musst sofort Rita davon erzählen.", bemerke ich aufgebracht. „Ich weiß wirklich nicht, ob das etwas bringt.", flüstert Liam. „Sie wird auf jeden Fall etwas unternehmen.", bekräftigte ich ihn. Als wir unserem Boss davon erzählen, Liam hätte alleine wahrscheinlich nicht den Mut dazu gehabt, wird Rita wahnsinnig wütend. „Erst müssen wir mit dieser lästigen Fledermaus zurecht kommen und dann schicken sie uns eine Schließerin, die aggressiv auf ehemalige Drogenabhängige reagiert. Wir müssen endlich etwas dagegen tun!", regt sich auch Linn auf. „Aber was können wir machen?", fragen Liam und ich gleichzeitig. „Ganz einfach, wir melden uns im Justizministerium.", antwortet Rita, die sich mittlerweile wieder etwas beruhigt hat. „Du meinst also, wir verpfeifen Miss Ducat.", stelle ich fest und unser Boss nickt.
„Seid ihr denn damit alle einverstanden?", fragt Rita vorsichtig. „Naja, immerhin geht es ja nicht gegen eine von uns, sondern gegen die Beamten.", bemerke ich. „Außerdem könnten wir so wirklich einmal Hilfe bekommen.", ergänzt Liam sofort. „Seid ihr euch da wirklich sicher?", fragt Linn und so kommt es zu einer Abstimmung. „Drei zu eins, also werden wir demnächst das Justizministerium informieren.", stellt Rita fest. „Hoffentlich ist das kein Fehler.", gibt Linn zu bedenken. „Bestimmt nicht.", schießen Liam und ich die Bedenken unserer Mitgefangenen in den Wind. „Naja, so etwas sollte man schon ernst nehmen, aber jetzt geht es erst einmal darum, etwas an unserer Situation zu ändern.", entgegnet unser Boss. Kurz darauf ruft sie anonym von einem Handy aus im Justizministerium an. „Ich hoffe, dass es funktioniert.", flüstere ich. „Ich hoffe eher, dass es nicht rauskommt und wir keine Strafe bekommen.", entgegnet Linn. „Sei doch nicht so pessimistisch.", erwidert Liam leise. Etwa zehn Minuten später kommt Rita lächelnd zurück. „Sie werden sich darum kümmern und zuerst einmal die Akte von Miss Ducat prüfen. Wir haben also schon einmal etwas erreicht.", informiert sie uns. „Wurdest du nicht gefragt, wer du bist?", fragt Liam neugierig. „Ich habe gesagt, dass ich eine Kollegin von ihr bin und mir aufgefallen ist dass sie sehr grob mit den Gefangenen umgehen. Außerdem habe ich gemeint, dass ich meinen Namen nicht sagen möchte, um vor unserer Chefin nicht schlecht dazustehen.", antwortet unser Boss. „Du bist echt verdammt schlau.", stelle ich fest. Rita bedankt sich mit einer leichten Verbeugung. „Ich habe wirklich Angst, dass das ganze gewaltig schief läuft. Nachdem, was Liam uns erzählt hat, ist Miss Ducat echt nicht zu unterschätzen.", murmelt mir Linn zu. „Du hast schon recht, aber diesmal müssen wir rechtzeitig etwas unternehmen. Es soll doch nicht so weit kommen, wie mit der Fledermaus.", entgegne ich. „Ja, aber sie weiß nicht, dass du es weißt. Ich habe gesagt, dass ich es alleine war.", antworte ich. Auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass es so schnell zu Konsequenzen für Miss Ducat kommen würde, ist es ziemlich schnell soweit. Beim Mittagessen kommt unsere Anstaltsleiterin vorbei, die normal nie beim Essen dabei ist und sie scheint ziemlich sauer zu sein. „Wer von Ihnen hat sich beim Justizministerium über Miss Ducat beschwert? Zuerst einmal hätten Sie zu mir kommen müssen, wenn Sie ein Problem mit der Kollegin haben. Ich habe extra eine Frau mit exzellenten Referenzen eingestellt, weil ich dachte, dass es nicht so viele Probleme gibt, wenn ich eine Frau einstelle, der Sie sich eventuell sogar anvertrauen können.", erklärt sie wütend. „Seht ihr, ich habe doch gesagt, dass wir deswegen noch Probleme bekommen werden.", zischt Linn uns zu. „Wenn niemand weiß, dass wir es waren, bekommen wir auch keine Probleme.", flüstert Rita zurück. „Das wird bestimmt niemand herausfinden, wenn wir uns endlich unauffällig verhalten.", entgegne ich leise. Linn will etwas erwidern, aber Liam schaut sie warnend an. „Unauffällig.", flüstert er. Abends gehe ich in die Zelle von Linn, um die ich mir langsam wirklich Sorgen. Wir reden eine ganze Weile und nachdem ich das Gefühl habe, dass sie sich keine oder zumindest einmal weniger Sorgen macht, verziehe ich mich wieder in meine Zelle und schaue die Bilder an meiner Wand an.
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True colors | LGBTQ
Teen Fiction»Erfahrung ist der Name, den wir unseren Fehlern geben.« Ich war nie so wie die anderen und ich wollte auch nie normal sein. Vielleicht waren Liam und ich deshalb füreinander geschaffen.