9.

44 2 0
                                    

POV Kneo
Nachdem ich Kai nach drinnen geschoben hatte und die Tür hinter mir wieder zuzog, merkte ich erst wie sehr er zitterte. ,,Was bist du denn so leichtsinnig? Du weißt, dass es noch nicht warm genug ist, so nach draußen zu gehen", und spielte damit auf seinen nackten Oberkörper an. Dass er nur in Boxershorts bekleidet nach draußen gegangen war, schockierte mich schon ein bisschen. Vor allem, dass ihn dann jeder so sehen konnte. Unweigerlich ballte ich meine Hände zu Fäusten und starrte Kai finster an. Bist du etwa eifersüchtig, Keno. Wie kommst du darauf, entgegnete ich gereizt. Lev konnte einem schon gehörig auf die Nerven gehen. Aber ich musste mir eingestehen, dass er gar nicht so unrecht hatte. Die Vorstellung, dass jemand Fremdes ihn so zu Gesicht bekam passte mir ja mal so gar nicht in den Kragen. Kai riss mich aus meinem inneren Konflikt indem er mich harsch anfuhr: ,,Du bist nicht meine Mutter. Ich kann sehr gut selbst entscheiden was ich tue und wie ich das tue." Ich starrte ihn fassungslos an. Da wollte man ihm was gutes, bekam aber nur Vorwürfe zurück. Resigniert schüttelte ich den Kopf. Es hatte keinen Zweck mit ihm zu diskutieren, dazu war er einfach zu stur. Und eingestehen, dass ich recht hatte, würde er sich erst recht nicht. ,,Willst du was essen oder trinken." Verwirrt sah er mich an, entgegnete dann aber: ,,Wenn du vielleicht einen Apfel und ein bisschen Wasser hättest. Das würde mir schon reichen." ,,Sicher, aber zuerst ziehst du dir was über. Komm mit ich finde bestimmt etwas dass auch dir passt." Gesagt, getan. In meinem Zimmer angekommen steuerte ich zielstrebig auf den Kleiderschrank zu, öffnete diesen und kramte ein wenig darin herum, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Triumphierend zog ich eine graue Jogginghose und einen schwarzen Pulli heraus, was mir beides nicht mehr passte und hielt es Kai vor die Nase. Dieser beäugte es etwas skeptisch, nahm sie aber schlussendlich entgegen und hatte die beiden Teile wenig später schon übergezogen. Er hatte endlich auch aufgehört zu zittern und so zog ich ihn hinter mir her runter in die Küche. Unten angekommen bedeutete ich ihm, sich auf die Arbeitsplatte zu setzen und füllte sogleich auch ein Glas Wasser, was er dankend annahm. ,,Willst du nichts anderes essen außer einen Apfel?" Fragend sah ich ihn an. Er schüttelte mit dem Kopf und trank das Glas aus, woraufhin ich es erneut füllte und ihm wieder reichte. ,,Du solltest wirklich mehr essen. Ich finde du bist zu dünn." Diese Anmerkung konnte ich mir nicht verkneifen und handelte mir einen finsteren Blick von Kai ein. ,,Ich kann dich ja sehr gerne auch mal 10 Wochen in den Keller sperren, mit nichts als Brot und Wasser. Dann bist du sicher auch so dünn", giftete Kai mich an. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet und sah ihn entsetzt an. ,,Schau nicht so als würde es dir etwas bedeuten. Ich bin dir einfach nur dankbar, dass du mich da rausgerissen hast. Aber erwarte keine Gegenleistung. Schließlich hast du meinen Bruder auch umgebracht."

POV Kai
Der Gesichtsausdruck auf Keno's Gesicht verriet mir, dass er mit allem gerechnet hatte aber ganz sicher nicht damit, dass ich ihm dankbar sein würde. Er sah mich an, als würde er bereuen, dieses Thema angesprochen zu haben. Und plötzlich fand ich mich in seinen Armen wieder. Er umarmte mich. Was ist denn in den gefahren. Silver war mindestens genauso überrascht wie ich. Gerade konnte ich keinen Muskel rühren. Mein Körper war wie versteinert. Eigentlich wollte ich ihn wegdrücken, diese körperliche Nähe beenden und wieder Abstand zwischen uns bringen. Aber mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Ich hing verloren in seinen Armen und wünschte mich in diesem Moment ganz weit weg. Seine Umarmung gab mir ein mir unbekanntes Gefühl von Geborgenheit und Wärme und mir wurde erst jetzt bewusst, wie sehr mir diese Nähe zu anderen gefehlt hatte. Unweigerlich stiegen heiße Tränen in meine Augen und ich hatte Mühe sie zurückzuhalten. Aber so sehr ich es auch versuchte, mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Die erste Träne rann meine Wange hinab, tropfte auf Keno's Shirt und hinterließ einen kleinen nassen Fleck. Diese eine verräterische Träne zeugte von Schwäche und doch folgten ihr scheinbar endlose gleichgesinnte. Schluchzend klammerte ich mich in Keno's Shirt und gab es auf die Tränen zurückzuhalten, die mittlerweile in Strömen über meine Wangen liefen und den grauen Stoff durchnässten. Keno strich beruhigend immer wieder über meine zerzausten Haare, bewirkte damit aber das Gegenteil. Zwischen zwei Schluchzern rang ich nach Luft und könnte mich innerlich selber Ohrfeigen, dass ich ihm gegenüber so schwach war. Damit erfüllte ich ja quasi das Klischee eines Omegas: Hilfsbedürftig, schwach und nah am Wasser gebaut. Aber so wollte ich nicht sein und dennoch bei ihm ließ ich alle Vernunft fahren. Und das machte mir Angst. Mehr als es eigentlich sollte, denn ich hatte keine nennenswerte Bindung zu ihm. Ich kannte ihn ja nicht einmal richtig. Unermüdlich zogen seine Finger Kreise durch meine Haare und beruhigten mein aufgewühltes inneres tatsächlich ein bisschen. Der Tränenfluss schien kein Ende zu nehmen und mittlerweile hatte ich es aufgegeben mich zurückzuhalten. Der Frust, die Trauer und die Einsamkeit der letzten Jahre bahnten sich einen Weg an die Oberfläche und sprudelten zusammen mit den Tränen nur so aus mir heraus. Irgendwann versiegten die Tränen und machten einer allumfassenden Müdigkeit und Erschöpfung platz. Immer noch hatte Keno mich im Arm und war, so wie es aussah, nicht gewillt mich loszulassen. Ich hatte auch gar nicht vorgehabt mich aus seiner Umarmung zu befreien, dazu fehlte mir einfach im Moment die Kraft. Schwer lies ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken und gab mich der Müdigkeit hin, die meine Lieder immer schwerer werden lies. Ich war Keno unglaublich dankbar, dass er im Moment keine Fragen stellte und die Situation so hinnahm, wie sie war. Erschöpft wollte ich mich von seinem warmen Körper lösen aber Keno hatte anscheinend andere Pläne. Im nächsten Moment hatte er mich von der Arbeitsplatte heruntergehoben und trug mich wieder in sein Zimmer. Meine Lieder wurden immer schwerer und ich gab es letztendlich auf, diese krampfhaft offen zu halten und lies mich noch tiefer in seine starken Arme sinken.

POV Keno
Es hatte mich erschreckt, dass Kai anscheinend die letzten Jahre so viel Traurigkeit und Frust in seinem Inneren verschlossen hatte. Sein Körper hatte dem ganzen schließlich nicht mehr standhalten können und es war wie ein Wasserfall aus ihm herausgebrochen. Was um alles in der Welt hatte er die ganzen letzten Jahre durchstehen müssen. Das durften wir, und da war ich mir mit Lev einig, nie wieder zulassen, dass ihn irgendwer so sehr verletzte. Irgendwann hatten die Tränen ein Ende und sein Kopf sank matt auf meine Schulter. Er war so erschöpft, dass er nicht einmal protestierte, als ich ihn von der Kücheninsel herunterhob. Wäre die Situation eine andere, dann hätte er sicherlich mit aller Kraft versucht sich zu befreien, da war ich mir sicher. Mit dem jungen Wolf auf dem Arm machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer. Kai ließ sich unbewusst noch tiefer in meine Arme sinken und ich konnte mir ein schmunzeln nicht verkneifen. Er ist wirklich süß, wenn er denn nicht immer so verdammt stur wäre. Können wir ihn behalten Keno, was meinst du? Ich werde ihn ganz sicher nicht mehr in seine frühere Umgebung zurück lassen. Du siehst ja was sie ihm alles angetan haben. In der Zwischenzeit war Kai auf meinem Arm eingeschlafen und ich legte ihn vorsichtig auf dem Bett ab und deckte ihn mit der grauen Decke zu. Seine Augen waren gerötet und ein bisschen geschwollen von dem vielen Weinen und ich beschloss Jeden, der ihm etwas böses wollte, aufzuhalten, egal was es kosten würde. Eine Weile stand ich so neben dem Bett und sah ihm beim schlafen zu. Seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen und es schien so als würde er, zumindest im Moment, nicht schlecht träumen. Dies konnte sich allerdings jederzeit ändern und so beschloss ich mich neben ihn zu legen. Seufzend lies ich mich auf die Bettkante sinken und starrte, vollkommen in Gedanken, vor mich hin. Was hatten seine Eltern, die ihn wohlgemerkt eigentlich beschützen sollten, für ein Leid über ihn gebracht. Ich wollte gar nicht wissen, woher die unzähligen Narben, vor allem auf seinem Rücken, stammten. Welche Schmerzen hatte er nur durchstehen müssen. Wenn es ihm wieder ein bisschen besser ging, nahm ich mir fest vor, ihn darauf anzusprechen. Auch wenn ich dadurch vielleicht alte Wunden aufreißen würde, ich musste es einfach wissen. Lev war mehr als unruhig und ich konnte ihn verstehen. Mir gefiel das genauso wenig. Wenn er aufwachte, dann würde ich ihn fragen, ob wir zusammen ein paar seiner Sachen holen wollten. Vielleicht würde im das die ganze Situation ein bisschen leichter machen, denn ich wollte ihn ungern wieder gehen lassen. Neben mir wälzte Kai sich unruhig auf der Matratze herum und hatte sich mittlerweile so in seiner Decke verheddert. Ich beugte mich zu ihm und befreite ihn vorsichtig aus der flauschigen Decke, legte mich zu ihm und zog ihn in meine Arme. Langsam beruhigte er sich wieder etwas und schmiegte sich, wahrscheinlich unbewusst, mehr an mich und schlief wieder fester ein. Leicht musste ich schmunzeln und schloss meine Augen. Wenig später schlief ich ebenfalls ein.

Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt