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POV Keno
Als ich wenige Stunden später wieder aufwachte, lag Kai ausgestreckt auf mir, schien aber weiterhin zu schlafen. Ich beschloss liegen zu bleiben, um ihn nicht aufzuwecken. Er sah deutlich besser aus wie vor einigen Stunden und ich hatte das Gefühl, dass er sich wieder einigermaßen erholt hatte. Zumindest körperlich. Die Schrammen und bleuen Flecken waren weitestgehend verblasst und er war nicht mehr ganz so blass. Leise klopfte es an der Tür und der Arzt streckte seinen Kopf durch den Spalt und betrat den Raum, nachdem ich meinen Kopf zur Bestätigung leicht geneigt hatte. Was sowieso die einzige Geste war, die ich zustande brachte. ,,Das scheint ihm gut zu tun.", flüsterte der andere Mann. ,,Wenn er sich weiterhin so schnell erholt, können Sie ihn mit nach Hause nehmen, wenn er aufwacht. Ich würde dann zu Ihnen nach Hause kommen. Ich glaube eine gewohnte Umgebung macht es ihm zusätzlich leichter mit dem ganzen fertig zu werden." Das sind doch gute Neuigkeiten. ,,Ich glaube das wird ihn freuen. Wenn Sie nur wüssten wie recht Sie damit haben. Das erste was er gesagt hat, nachdem er aufgewacht ist, war, wann ich ihn denn hier rausholen kann.", meinte ich grinsend. Der Arzt kam um die Liege herum und notierte sich die aktuellen Vitalzeichen auf seinem Klemmbrett. Kurz sah er zu Kai und schaltete dann einige der Geräte ab an die Kai immer noch angeschlossen war. ,,Ich muss ihn leider aufwecken, damit ich euch entlassen kann." Ein bisschen schuldbewusst schaute er mich an. Seufzend rutschte ich ein wenig nach oben auf der Liege und strich dem schlafenden Jungen vorsichtig über die Haare. Meine Hand verweilte auf seiner Wange und ich strich langsam mit dem Daumen über die weiche, malträtierte Haut. Leicht schmiegte er seinen Kopf in die Bewegung und grummelte. Der Arzt rückte noch ein bisschen näher heran und legte ihm die Hand auf die Stirn. ,,Hey, Kai. Mach die Augen auf." Allmählich blinzelte er und schlug schließlich die Auge ganz auf. Kaum hatte er den Mann erblickt weiteten sich seine Augen hoffnungsvoll. ,,Wann kann ich hier raus?" Damit hatte er sein Gegenüber so überrumpelt, dass dieser ihn erstmal anglotzte. Schnell hatte er sich wieder gefangen und meinte fröhlich: ,,Ich wollte gerade die abschließenden Untersuchungen durchführen und sie beide dann entlassen. Ich würde natürlich täglich ins Rudelhaus kommen und nach dir sehen." Die Veränderung in seinem Wesen nach dieser Aussage war geradezu belebend und ich war unendlich erleichtert, dass er so gute Fortschritte machte. Ohne Wiederrede ließ er die Untersuchungen über sich ergehen aber man sah ihm die Erschöpfung deutlich an. Man merkte dass er körperlich und psychisch noch sehr angeschlagen war und auch nach kurzer Zeit schon wieder Erschöpfung zeigte. Nachdem der Arzt sich entschuldigt hatte, um die restlichen Befunde fertig zu machen drehte Kai den Kopf wieder in meine Richtung und sah mich an. ,,Danke!" Perplex sah ich ihn an, weil seine Äußerung vollkommen aus dem Kontext gerissen kam, streichelte aber sanft seinen Rücken und er ließ seinen Kopf wieder auf meine Brust sinken. Ich zeichnete sanfte Kreise über seinen Rücken und nach kurzer Zeit war er schon wieder eingedöst.

Nach etwa einer Stunde hatte ich die restlichen Papiere unterzeichnet und Isabelle angerufen, damit sie uns abholte. Sie hatte das Auto genommen und war damit Nachhause gefahren, hatte mir aber versichert, dass sie nur einen Anruf entfernt war. Jetzt saß ich mit dem schlafenden Kai auf dem Schoß im Wartebereich des Krankenhauses und dachte nach. Über die Zukunft und wie sich wohl alles auf Kai, seine psychische Gesundheit und auf unsere Beziehung auswirken würde. Nach noch nicht einmal 10 Minuten kam Isabelle schnellen Schrittes den Gang entlang geeilt. Als sie uns erblickte, kam sie sofort auf uns zu und nahm mir die Tasche ab, die sie sich über die Schulter warf und zurück zum Ausgang marschierte. Beim Auto angekommen hielt sie mir die Tür auf, sodass ich mich, Kai immer noch auf meinem Schoß, in den Sitz fallen lassen konnte. Wir beide schwiegen und die Stille zwischen uns füllte sich mit ungefragten Dingen, während Isabelle den Wagen vom Parkplatz steuerte. Keiner wagte es das Vakuum zu durchbrechen, denn wir wussten beide dass keine Wörter dieser Welt die Situation im Moment erträglicher machten. Beide machten wir uns die größten Vorwürfe, jeder auf seine eigene Art, womit sich die Leere in uns mit weiteren Anklagen und ,,Was-wäre-wenn"- Szenarien füllte und das elende Gefühl auf ganzer Linie versagt zu haben nur verstärkte. Meine Starre löste sich abrupt, als Isabelle die Tür öffnete und mich mit einer kleinen Geste dazu aufforderte auszusteigen. Hinter uns schloss sie die Tür des Wagens, eilte an mir vorbei und hielt die Haustür auf, damit ich mit dem Wolf auf dem Arm eintreten konnte. Nach einem kurzen Wortwechsel mit meiner Beta zog ich mich ins Wohnzimmer zurück, bettete den Omega zwischen die weichen Sofakissen und deckte ihn zu. Ich hatte mir vorgenommen mein Büro ins Wohnzimmer zu verlegen, damit ich Kai nicht von der Seite weichen musste. Also schnappte ich mir meinen Laptop und die Unterlagen die im Moment die höchste Priorität hatten und breitete mich auf dem Couchtisch aus, was allerdings nur eine vorübergehende Lösung war weil der Platz mehr als begrenzt war. Als ich mich einigermaßen eingerichtet hatte, stopfte ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und begann die ganzen liegengebliebenen Telefonate mit Geschäftspartnern, anderen Alphas und furchtbar langweiligen Wichtigtuern abzuarbeiten. Vor allem letztere raubten mir sämtliche Nerven und nach dem letzten endlosen Gespräch mit einem Unternehmer, der einfach nicht auf den Punkt seines ohnehin völlig nutzlosen Angebots kam, nahm ich die Kopfhörer aus den Ohren um kurz durchzuatmen. Meine Geduld war am Ende also klappt ich den Laptop zu, schob ihn von meinen Oberschenkeln, lies den Kopf nach hinten fallen und schloss die Augen. Meine Beta hatte einen großen Teil der aufgetürmten Arbeit übernommen und bereits erledigt und gerade war ich ihr unglaublich dankbar. Aber die wichtigen Entscheidungen die ich zu treffen hatte wollte und konnte ich ihr nicht aufbürden. Nur eine kurze Pause, dann würde ich mich um den ganzen Papierkram kümmern unter dem ich den Couchtisch begraben hatte. Dafür brauchte ich allerdings wache Augen und einen stählernen Geduldsfaden. Beides besaß ich im Moment nicht und vor allem der unzureichende Schlaf der letzten Tage forderte seinen Tribut und meine Lieder wurden schlichtweg zu schwer. Gleich würde ich weitermachen versprach ich der Arbeit vor mir.

Etliche Stunden später, die Sonne war bereits untergegangen und die Stehlampe in der Ecke tauchte den Raum in einen wohlig warmen Schein, weckte mich ein unbekanntes Gewicht auf meinem Oberschenkel. Ich hätte schwören können ich hatte den Laptop zur Seite gestellt bevor ich meine Augen geschlossen hatte. Nach einem kurzen Blick nach unten stellte ich fest, dass ich sehr wohl den Computer auf dem Tisch abgestellt hatte und das Gewicht zu Kai's Kopf gehörte den er auf meinem Schoß abgelegt hatte und bereits wieder eingedöst war. Er hatte sich wie eine kleine Katze neben mir zusammengerollt und ich konnte nicht widerstehen und fing an seinen Kopf zu streicheln nur um meine Gedanken zu beruhigen. An Arbeit war jetzt sowieso nicht mehr zu denken weil auf keinen Fall wollte ich ihn erneut aufwecken um meinen Pflichten nachzugehen. Die beste Lösung schien gerade zu sein, die Papiere einfach für den Moment zu vergessen und ein wenig Schlaf aufzuholen. So rutschte ich nach unten und zog Kai in meine Arme der bereitwillig seine Decke freigab und sich an mich kuschelte. Kaum hatte ich die flauschige Wolldecke zurechtgezogen und meinen Kopf in Kai's Halsbeuge vergraben, forderten die letzten Tage und die Anspannung, die nun langsam wich ihren Tribut und ich war innerhalb von nur weniger Minuten ebenfalls tief und fest eingeschlafen.

POV Kai
Keuchend schreckte ich hoch und stellte erleichtert seufzend fest, dass die Hitze neben mir von Keno's Körper ausging und nicht von dem riesigen dunkelbraunen Wolf der jede einzige Sekunde meiner Träume heimsuchte. Wasch dieses eklige Gefühl bitte ab Kai sonst werd ich hier noch verrückt. Das war die einzig logische Folge, denn sonst würde ich wirklich durchdrehen. Ich sah sogar schon einzelne Büschel seines Fells an meiner Kleidung und der verschwitzen Haut darunter haften. Die Strickjacke streifte ich auf der Stelle ab und ließ sie zu Boden fallen als wäre sie in Blut getränkt oder stank fürchterlich. Auf dem Weg nach oben musste ich mich am hölzernen Geländer der Treppe festklammern um nicht auf die wackligen Knie zu sinken und so brauchte ich dementsprechend lange bis ich endlich das Badezimmer erreicht hatte. Die Tür drückte ich hinter mir zu und schälte mich aus den klammen Klamotten die auf meiner Haut klebten und ein frösteln hinterließen. Als das letzte Kleidungsstück auf den Boden fiel betrachtete ich die geschundene Haut und die vielen blauen Flecken die seine Hände hinterlassen hatten. Der Anblick katapultierte mich direkt in meinen Albtraum und die letzten Tage zurück und meine abgebrochenen, rissigen Nägel fanden die deutlichsten Spuren der Misshandlung und gruben sich in die ohnehin schon verletzte Haut. Die Starre die sich mit dem Anblick all der Blutergüsse eingestellt hatte löste sich erst als meine eigenen Hände diese mit blutenden Kratzspuren überzogen hatten, sodass von den darunterliegenden Verletzungen nur noch wenig zu erahnen war. Der Junge im Spiegel war kurz davor in Tränen auszubrechen und die mühsam errichtete Mauer um meine Gefühle vollends niederzureißen. Das durfte ich auf keinen Fall zulassen, denn das hieße dass ich ihm Macht über mich und meine Gefühle gab. Schnell wandte ich den Blick ab um endlich die Dusche zu betreten und das ganze Blut, den Schweiß und die geisterhaften Berührungen abzuwaschen. Sekunden nachdem meine Füße den kalten Boden berührt hatten prasselte das heiße Wasser auf mich herab und ließ die offenen Stellen wie Feuer brennen. Die Augen geschlossen schrubbte ich allen sichtbaren und unsichtbaren Schmutz solange von meiner Haut bis sie rot und wund war. Seufzend drehte ich das Wasser ab um nach dem Shampoo zu greifen als mein Blick auf den Rasierer in der Ablage fiel. Ich wusste wie man ihn auseinandernahm und wie ferngesteuert griff ich danach und nach wenigen geübten Handgriffen hatte ich schließlich die Einzelteile in der Hand. Das blitzende Metallteil fühlte sich kalt zwischen meinen tauben Fingern an während ich mich auf die Knie sinken ließ und die Innenseite meiner Oberschenkel musterte. Von den früheren Schnitten und alten Narben war nichts mehr zu sehen, nur die etwas dickere Haut erinnerte daran. Ich wusste das es falsch war aber als die Klinge die erste Hautschicht durchdrang warf ich alle vernünftigen Gedanken über den Haufen. Der erste Schmerz brachte Erleichterung und je tiefer die scharfe Kante glitt, desto weiter entfernten sich die Erinnerung und schienen zumindest für den kostbaren, süßen Moment des Schmerzes nicht mehr zu existieren.

Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt