Kapitel 64

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Sobald ich in meinem Apartment bin, gehe ich in die Küche, öffne eine Flasche Wein und trinke. Ich setze erst ab, als die halbe Flasche leer ist und gehe dann ins Wohnzimmer, um mich auf die Couch gleiten zu lassen. Ich bin so unfassbar sauer. Kann immer noch nicht fassen, das er meine wichtigste Regel gebrochen hat. Jetzt erscheint mir die Idee, einen Enthüllungsartikel in der York zu schreiben, gar nicht mal so abwegig.
Doch wenn ich das tue, werde ich seinen Hass auf mir spüren. Das würde er mir nicht verzeihen. Er würde mich vielleicht sogar umbringen lassen, wie Lilian. Ob er das wirklich tun würde?
Ich habe gar keine Zeit darüber nachzudenken, denn mein Handy klingelt. Ich ziehe es aus meinem Mantel, den ich immer noch trage und hebe ab, ohne zu schauen, wer der Anrufer ist.
„Hallo?", frage ich genervt.
„Miss Grey, ich bin es. Jones."
Sofort setze ich mich kerzengerade hin und stelle die Weinflasche auf den Glastisch vor mir.
„Äh... Mr Baldwin. Ich dachte ich soll sie um sechs anrufen?", stottere ich nervös.
„Haben Sie ihre Entscheidung bereits getroffen?", will er wissen, ohne auf meine Frage einzugehen.
Habe ich das? Ich will mir gar nicht ausmalen, was Lucifer tun würde, wenn er solch einen Artikel über sich in der Zeitung lesen würde. Und was würde er mit mir tun? Ich könnte Dinge über ihn preisgeben, die ihn in Schwierigkeit bringen würden. Diese Schwierigkeiten sind jedoch nichts gegen die, die ich dann am Hals hätte. Weshalb ich ohne weiter darüber nachzudenken antworte:„Tut mir leid, Mr Baldwin. Ich kann das nicht tun." Denn wissen Sie, ich hänge doch ziemlich stark an meinem Leben.
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann ein seufzen. „Dann tut es mir leid, Miss Grey. Aber Sie sind gefeuert. Holen Sie morgen Ihre Sachen aus Ihrem Schreibtisch."
Piep. Piep. Piep. Ich bin wie erstarrt. Halte immer noch das Handy an mein Ohr, obwohl er bereits aufgelegt hat. Das ist nicht wahr. Ich muss einen Alptraum haben.
Ich bin gefeuert. Arbeitslos. Und das alles nur, weil ich keinen gottverdammten Artikel über den Teufel verfassen wollte, weil ich viel zu sehr Angst davor hatte, was er mir antun hätte können.
Ich lasse das Handy auf die Couch fallen und mich nach hinten sinken. Das darf nicht wahr sein. Das ist alles nur ein böser Traum. Gleich wache ich auf und alles ist noch beim alten. Doch ich wache nicht auf. Denn ich bin bereits in der bitteren Realität. Die ist viel schlimmer als jeder Alptraum, den ich die letzten Jahre hatte. Am liebsten würde ich losschreien. Doch dann klingelt plötzlich erneut mein Handy und ich greife es sofort, in der Hoffnung, Jones hätte es sich anders überlegt.
„Mr Baldwin?" Meine Stimme klingt hoffnungsvoller, als ich in Wahrheit bin.
„Dein Kopf ist schwerer zu knacken als ich dachte.", ertönt eine ganz andere Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Wer ist da?", will ich sofort wissen.
„Wir treffen uns in zwei Stunden im Dead Rabitt. Dann behebe ich den Fehler.", sagt er bloß.
Verwirrt blicke ich aufs Display. Unbekannte Nummer.
„Wer bist du?", wiederhole ich wieder meine Frage. Stille. Ich schaue wieder aufs Display. Der Fremde ist noch dran.
„Wer ich bin, ist vorerst unwichtig. Wichtig ist nur, das du tust, was ich dir sage."
„Wieso sollte ich tun, was ein Fremder mir sagt?"
„Weil ich auf deiner Seite bin, Lilith Grey." Und dann legt er auf. Ich bin total verwirrt. Wer war das? Die Stimme kommt mir so bekannt vor. Als hätte ich sie bereits irgendwo gehört. Dann erinnere ich mich an das Flüstern. Die Stimme in meinem Kopf. Werde ich schon verrückt? Gab es den Anruf eben wirklich oder habe ich mir das eingebildet?
Du wirst verrückt, Grey!
Ich lege das Handy weg und greife nach der Weinflasche, um erneut einen sehr großen Schluck zu trinken. Kann mein Tag noch beschissener werden? Erst erfahre ich diese Sache mit Lucifer. Dann treffe ich ihn auch noch bei meiner Mutter und streite mich mit ihm. Gerade eben wurde ich gekündigt, weil ich Angst habe, über ihn zu schreiben und jetzt verlangt ein Fremder von mir, ihn in irgendeiner Bar, die ich nicht kenne, in zwei Stunden zu treffen. Mir brummt der Kopf. Vielleicht liegt das auch am Wein. Ich setze erneut die Flasche an. Und ehe ich mich versehe, ist sie leer. Dann schaue ich auf die Uhr. Da ich jetzt arbeitslos bin, kann ich mich auch mitten in der Woche betrinken. Zum Glück wohne ich in New York, denn hier finden selbst mitten in der Woche irgendwelche Partys statt. Ich gehe duschen und danach ziehe ich mich um. Das heiße Wasser auf meiner Haut tat gut. Für einen kurzen Moment war alles in Ordnung. Bis ich fertig war. Danach schaue ich in meinen Kleiderschrank. Ich entscheide mich für eine schwarze, an den Knien zerissene Hose und ein schwarzes Oberteil, das mehr von meinem Busen freigibt, als ich normalerweise zeige. Soll mir egal sein. Im Moment ist alles gleichgültig. Ich bin arbeitslos. Kann es immer noch kaum fassen. Selbst die Sache mit Lucifer rückt gerade in den Hintergrund meiner Probleme. Bevor ich meine Haare mache, hole ich mein Handy ins Badezimmer und rufe Mell an. Ich muss mit jemanden reden, nur nicht mit Mike, denn Josie ist seit Samstag bei ihm und ich will ihn nicht stören. Also wähle ich ihre Nummer und stelle auf Lautsprecher. Es vergehen einige Sekunden, bis sie den Anruf entgegennimmt und ich ihre Stimme höre. „Hey, ist alles in Ordnung?", fragt sie mich und ich würde ihr am liebsten alles auf einmal erzählen.
„Jones hat mich gefeuert.", fange ich stattdessen erst mal damit an.
Ich kann hören, wie sie ungläubig nach Luft schnappt. „Was? Das ist doch ein Witz, oder?", fragt sie fassungslos.
„Ich habe ihm gesagt, das ich den Artikel nicht schreiben werde. Daraufhin hat er mich gefeuert."
„Scheiß Arschloch.", flucht sie wütend. Ich kann mir vorstellen, wie sie gerade auf und ab läuft, wo auch immer sie gerade ist.
„Das kannst du laut sagen.", seufze ich.
„Was wirst du jetzt tun?"
Ich lasse meine Schultern sinken und betrachte mich im Spiegel, bevor ich ihr antworte. „Mich betrinken, was sonst?"
Sie kichert. „Soll ich mitkommen? Dann kann ich dir die Haare halten, falls du kotzen musst.", bietet sie mir an und ich lächle.
„Der Abend endet wohl eher, das ich dir die Haare wieder halten muss.", necke ich sie. Daraufhin schnalzt sie mit der Zunge. „Wie war es gestern mit Lucifer?", wechselt sie das Thema. Wieso muss sie ausgerechnet jetzt damit anfangen. Ich habe im Moment ganz andere Probleme. Ich erzähle ihr trotzdem davon. Alles kann ich nun mal nicht in mich hineinfressen.
„Er hat mit Isabelle geschlafen.", platze ich heraus und sie schnappt zum zweiten mal nach Luft. Es laut auszusprechen, verpasst mir erneut einen Stich in der Brust. Hat er sie auch so geküsst wie mich und ihr liebevolle Versprechungen gemacht, an die er sich niemals halten wird?
„Du willst mich wohl verarschen? Wann? Habt ihr da schon eure komische Affäre mit diesen Regeln gehabt?"
Ich mache mir vorsichtig einen Lidstrich, bevor ich ihr antworte. „Keine Ahnung. Wir haben uns gestritten und bin dann mit dem Auto meiner Mum weggefahren.", erzähle ich, während ich meine Wimpern tusche und mir danach Rouge auf die Wangen trage. „Außerdem habe ich eine Flasche Wein innerhalb einer halben Stunde ausgetrunken.", kichere ich und hiekse. Ein Schluckauf hat mir jetzt noch gefehlt.
„Lilith...", haucht sie besorgt.
„Mach dir keine sorgen, Mell.", beruhige ich sie.
„Tu bitte nichts unüberlegtes.", bittet sie mich. „Soll ich heute Abend zu dir stoßen? Alleine feiern macht doch keinen Spaß und ich habe mir die Woche sowieso freigenommen."
Ich denke kurz darüber nach. Jemanden bei mir zu haben, der aufpasst, dass ich keinen Blödsinn mache, wäre ziemlich angebracht. Ich erinnere mich an das letzte mal, als ich allein trinken war. Ich war gerade 18 geworden und Jack hatte die Schule verlassen, ohne sich mir gegenüber zu erklären, geschweige denn sich zu verabschieden. Also habe ich mich heimlich aus dem Haus geschlichen und habe jegliche Bars abgeklappert die ich finden konnte. Dank meines gefälschten Ausweises, den Joel uns damals besorgt hatte, konnte ich überall Alkohol kriegen und bin in jeden Club gekommen. Ich war in drei verschiedenen Bars und habe mich volllaufen lassen, bevor ich in irgendeinem Club gelandet bin und mich einer Gruppe 21 Jähriger angeschlossen habe. Ich habe auf dem Tresen getanzt, habe mit einem fremden geknutscht und habe Mike kennengelernt. Er hat mich mit zu sich genommen und sich liebevoll um mich gekümmert, obwohl ich nur irgendeine fremde, betrunkene Tussi war. Er hat mir die Haare gehalten beim kotzen, hat mir Sachen zum anziehen gegeben und ich durfte in seinem Bett schlafen. Seitdem ist er mein bester Freund. Der Abend hätte auch anders enden können. Mike hätte irgend ein schmieriger Perverser sein können, der mich vergewaltigt, doch ich hatte wohl großes Glück, an ihm geraten zu sein. Er ist wohl doch mein Schutzengel.
„Ich schreibe dir später, wo wir uns treffen, ok?"
„Geht klar. Dann bis später", verabschiedet sie sich. Doch bevor ich auflege, sagt sie noch etwas. „Ich bin immer für dich da. Falls du Geld brauchst, helfe ich dir."
Ich lächle. „Alles gut. Ich hab ein bisschen was zusammen gespart, um komme erstmal klar, bis ich etwas anderes gefunden habe. Trotzdem danke."
„Hab dich lieb.", verabschiedet sie sich.
„Ich dich auch. Bis nachher, Mell!", und ich lege auf. Bevor ich losgehe, schüttle ich meinen Kopf, um meine Locken noch wilder aussehen zu lassen.
Im Fahrstuhl kontrolliere ich nochmal, ob ich alles habe und entdecke einen roten Lippenstift in der Clutch. Den muss Mell am Samstag in meine Tasche getan haben. Der würde meinen Look perfekt vervollständigen. Also hole ich ihn raus und benutze die Spiegelwand des Fahrstuhl, um ihn mir vorsichtig aufzutragen. Damit fertig, betrachte ich mich. Meine Wangen leicht gerötet, durch den Rouge. Meine blauen Augen definiert durch meine getuschten Wimpern und meinem gezogenem Lidstrich. Die dunkelroten Lippen. Meine Pumps, die zerrissene Hose und mein zu weiter Ausschnitt. Wer bist du bloß und was tue ich hier?


Draußen wartet bereits das Taxi, das ich gerufen habe und ich fahre direkt zur Bar, in der mich dieser Fremde treffen will. Warum genau ich seine Anweisung befolge, weiß ich selbst nicht. Wahrscheinlich ist es die Neugier. Oder die Gefahr, die mir neuerdings zu gefallen scheint.
Dort angekommen, bin ich ziemlich nervös. Die Bar liegt in der Innenstadt und scheint gut besucht zu sein. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl. Nach wem soll ich überhaupt Ausschau halten? Als ich die Bar betrete, kommt mir der Geruch von Alkohol direkt entgegen. Mir wird schwindelig. Die Flasche Wein macht sich wieder bemerkbar. Doch ich fange mich wieder schnell und gehe zur Bar. Ich bestelle mir ein Glas Wein und lasse den Blick durch das Lokal gleiten. Es gibt mehrere Sitzecken und einige Stehtische. Die Bar ist hell erleuchtet und sehr gut besucht für einen Montag. Ich nehme mein Bier und suche mir in der hintersten Ecke einen freien Platz, an den ich mich setze. Dort ziehe ich meinen Mantel aus und warte. Ich warte... und warte. Beobachte die Menschen, die sich rege miteinander unterhalten und ein Bierchen nach dem anderen trinken. Bis vor mir ein Mann steht. Er trägt eine schwarze Lederjacke und eine dunkelblaue Jeanshose. Sein dunkelblondes Haar ist ordentlich nach hinten gestylt und seine grünen Augen betrachten mich intensiv. Ich weiß, das er es ist, ohne das er sich mir vorstellen muss. Er setzt sich mir gegenüber und lehnt sich zurück.
„Du siehst hübsch aus, Liebes.", versucht er mir zu schmeicheln doch ich hebe abwehrend meine Hand.
„Was wollen Sie von mir? Wieso sollte ich herkommen?"
Er schaut mir in die Augen. So intensiv, dass ich wegsehen will, aber nicht stark genug bin. Da liegt etwas in seinen Augen. Etwas geheimnisvolles, das gleichzeitig so vertraut wirkt, das es mir selber Angst einjagt.
Und dann höre ich sein Flüstern. Sein Mund bewegt sich, doch das was er sagt, höre ich nur in meinem Kopf.
„Vertrau mir!" Und ich vertraue ihm. Ich vertraue ihm mehr als mir selbst, obwohl er nur ein Fremder ist, dessen Stimme in meinem Kopf widerhallt.
„Alice ist so tief in deinen Kopf gedrungen, dass es mich mehr Mühe kostet, dich unter meiner Kontrolle zu bringen."
Alice war in meinem Kopf? Das ist alles so verwirrend. Er redet, doch ich verstehe kaum, was er mir mitteilen will.
„Wer bist du?", will ich wieder wissen.
Ein Kellner taucht plötzlich neben uns auf. Der Fremde, dem ich vertraue, bestellt sich einen Brandy mit Eis. Der Kellner verschwindet und er fixiert meinen Blick.
„Ich bin Lucius. Ein alter Freund von Lucifer. Aber das weißt du ja bereits. Ich sehe deine Erinnerungen.", erklärt er und ich nehme mein Glas und trinke es halb aus. Das ist so verrückt. Er ist Lucilles Bruder. Doch müsste er nicht längst Tod sein? Sind Hexer unsterblich? Ich habe keinen blassen Schimmer. Diese Welt ist so neu für mich. Und so verrückt. Ich sollte Angst haben, doch die habe ich nicht, weil ich ihm vertraue. Einen Fremden.

My DestinyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt