Kenneth
Stille. In unserem LandRover war es totenstill, als wir zurück fuhren, und es war berechtigt. Kyle war ja auch tot. Er war tot. Was immer ich ihm mal gewünscht hatte, das hier war es nicht. Irgendwie war er, so oft er auch unausstehlich, gewalttätig und angsteinflößend gewesen war, auch ein Teil von uns. Und dass er für uns gestorben war, machte all seine Untaten, gewollte und ungewollte, wieder wett. Er war der Held dieser Story. Und als solcher sollte er auch geehrt werden.
Als ich den Wagen auf die Landstraße nach St. Helens lenkte, warf ich Helen eine Blick zu. Sie starrte aus der Frontscheibe und sagte nichts. Sie weinte nicht und ich glaubte, dass sie es auch nicht mehr tun würde. Ich nahm die eine Hand vom Lenkrad und legte sie auf ihre. Bei der Berührung sah sie mich an, lächelte und verschränkte die Finger mit meinen.
Nein, sie würde nicht mehr heulen. Sie musste es auch nicht. Niemand musste das. Kyle hatte gewusst, was ihn jetzt erwartete. Er kannte den Ort, an den er ging, und er war in dem Wissen gegangen, dass wir uns eines Tages wieder sehen würden. Eines schönen Tages. Und deshalb mussten wir auch nicht traurig sein. Auch wenn ich es trotzdem war...
Michael stand vor der Villa. Er stützte sich auf seinen Gehstock und hob den Kopf, als der Kies unter den Reifen unseres Autos beim Hinauffahren der Auffahrt knirschte.
Ich hielt den Wagen an und drehte den Motor aus. Helen öffnete die Beifahrertür, stieg aus und stand da. Sie und Michael sahen sich eine Minute lang an.
Auch ich stieg aus. Dann blickte Helen zu Boden.
"Er ist tot", sagte sie klar und deutlich. Sie hätte es nicht laut aussprechen müssen, nicht vor Michael, sie hätte nur daran denken müssen. Aber es auszusprechen machte es irgendwie fest. Dass es sie traurig stimmte, konnte man hören. Dass es trotz dieser Tatsache irgendwie okay war, konnte man nicht verstehen, aber ich fühlte mich genauso. Deshalb wusste ich, dass sie wegen dem Gefühl, dass es in Ordnung war, mehr Schuld empfand als wegen Kyles Tod selbst.
Michael musterte uns und lächelte dann. "Er ist in Ehre gestorben und nur das zählt. Ja, ihr werdet ihn wieder sehen und das ist tröstend. Es freut mich, zu wissen, dass er zu euch zurück gefunden hat."
Helen nickte. Sie sah noch immer auf den Boden. Seufzend ging ich um die Schnauze unseres Autos herum und griff nach ihrer Hand. Ohne ein weiteres Wort ließ sie sich von mir in die Villa führen. Es war vorbei. Und wir waren zu Hause.
Noch bevor Michael die Tür hinter uns geschlossen hatte, kam Lucy uns entgegen. Sie schloss Helen lange in die Arme und umarmte auch mich. "Ihr lebt! Ich bin froh, dass es euch gut geht."
Helen nickte resigniert. Sie atmete tief ein und richtete ihren Blick dann auf Lucy. "Kyle ist tot."
Lucy stockte mitten in ihrem Freudentanz und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Sie wollte ihr Mitgefühl kund tun, das war ihr anzusehen. Doch Helen kam ihr zuvor. "Nein, es ist... okay. Aber... ich würde es gern erklären."
Lucy sah sie an und nickte. "Ja, gern."
"Vor allen. Ich möchte es gerne allen erklären." Sie wollte allen Unmöglichen erzählen, was Kyle getan hatte. Und ich war sofort dafür. Wenn es eine größere Chance gab, ihn hier im Diesseits weiter leben zu lassen, dann diese.
Michael schaltete sich ein. "Ich werde eine Gemeindeversammlung einberufen lassen."
Helen nickte ihm dankbar zu. "Auch wenn sie ihn nicht kannten. Er hat sie gerettet. Er wusste es nicht einmal. Wollte nur Kenneth und mich retten."
"Ich weiß", erwiderte Michael lächelnd. "Er verdient diesen Abschied."
Gideon trat in die Eingangshalle und eilte näher, als er uns sah. Erleichterung stand in seinem Blick und er sah uns fragend an. Er hatte gehört, was Helen gesagt hatte, doch seine Frage war das Wie.
Und er sollte es bald erfahren.
Der Morgen graute. Dass Michael, Lucy und Gideon, die wussten, wo wir waren, nicht geschlafen hatten, konnte ich mir denken. Aber der Rest der Gemeinde war so schnell versammelt, dass ich glauben musste, auch sie hatten nicht schlafen können. Dann standen wir da, vor der ganzen Menge und ließen den Blick über die Gemeindemitglieder wandern. Es waren überwiegend die Erwachsenen, die sich versammelt hatten. Neben Gideon und Lucy waren noch ein paar wenige ältere Jugendliche anwesend. Ich denke, es waren die Überlebenden. Ungefähr hundert an der Zahl. Das war wirklich nicht viel. Das hatte die Hexe alles angerichtet.
Doch jetzt war es vorbei.
Auf unserem Podium stand eine Kanzel, ein Pult, von dem aus wir offensichtlich sprechen sollten. Michael zeigte keine Anstalten, den Anfang zu machen. Er hatte sich auf seinen Gehstock gestützt und blickte lange über die Köpfe der Menge hinweg, auch als diese still war. Zögernd trat Helen in den Fokus des Publikums, als sie sich hinter das Pult stellte. Sie stützte ihre Hände links und rechts von der Fläche auf, auf der Spickzettel liegen sollten, und sah sie nur an. Sie holte einmal tief Luft. Öffentliche Ansprachen waren nicht ihr Ding. Aber wenn ich ihr diese hier abgenommen hätte, wäre sie nicht besonders begeistert.
Dann hob sie den Blick, ließ ihn über ihre Zuhörer schweifen und fing an, zu sprechen.
"Sicher fragen sie sich, wieso wir... wieso Michael diese Versammlung einberufen hat." Sie räusperte sich einmal. Die skeptischen, erwartungsvollen Blicke der Menschen durchbohrten sie fast. "Nun, viele von ihnen wissen es vielleicht nicht. Ich bin Nick Hodgsons Tochter, und mein Freund" - sie warf mir einen Blick zu, den ich mit einem halben Lächeln erwiderte - "ist der Sohn von Thomas Rushworth. Wir sind nicht hier aufgewachsen, unter euch, die das Erbe der Älteren kannten. Wir haben lange gebraucht, um herauszufinden, was es heißt, unmöglich zu sein.
Am Anfang waren wir zu dritt... Mein Bruder, Kyle, er hatte uns verlassen. Er hatte sich auf eine Reise gemacht, von der er nicht als er selbst zurück kam. Sie alle wissen vom Kampf um unser aller Leben gegen eine böse Macht, der vor siebzehn Jahren ausgetragen wurde..."
Sie erzählte alles. Berichtete davon, wie wir Kyle gesucht hatten, wie wir vor ihm fliehen mussten. Sie erzählte die Kurzfassung. Die persönlichen Details ließ sie aus. Auch dass Kyle vor Eifersucht fortgelaufen war, erzählte sie nicht. Als sie ankam, wie wir ihn in der Burg gefunden hatten, seufzte sie und räusperte sich. Sie warf einen Blick auf mich und ich trat an ihren Seite und fuhr fort. Hinter dem Pult drückte Helen dankbar meine Hand.
"Er hat mit uns gekämpft, als wir ihn befreiten. Und schließlich hat er sich geopfert, um uns zu retten. Er wusste nichts von ihnen hier, er wusste nicht, welche Tribute der Kampf vor siebzehn Jahren gefordert hatte, und doch hat mein bester Freund sich geopfert, um uns zu retten.
Wir fanden, sie sollten das wissen. Er hatte niemanden außer uns, obwohl er es verdient hätte, hierher zu kommen. Er war ein Jenseitsspringer und hat die Hexe mit genommen. Er ist für immer gegangen, damit wir leben können. So wie unsere Eltern.
Ich finde, er verdient es, gekannt zu sein."
Ich schloss die Rede und trat zurück. Die Gemeinde hatte aufmerksam zugehört. In vielen Mienen sah ich Mitleid und in den meisten stand Entsetzen, als sie erfuhren, dass die Hexe noch immer gelebt hatte, als sie sich sicher gefühlt hatten. Doch um Hochachtung für Kyle zu entwickeln, war die Nachricht noch zu neu und Kyle zu unbekannt.
"Kyle Hodgson", sagte Helen neben mir und blickte in den Himmel. "Niemand hat dich mehr geliebt als wir. Und ich bin dir auf ewig verbunden."
"Du bleibst", fügte ich hinzu und lächelte. In diesem Moment wusste ich, dass Kyle uns zusah und grinste. Denn das tat er von seinem Friedhof dort oben ganz sicher. "Für immer toter Mann", flüsterte ich, als wir das Podium verließen und ich den Arm um Helens Schultern legte. Vor uns lag eine Leben in Frieden. Alles, was in diesem Jahr passiert war, hatte unser Leben verändert. Wir hatten unsere Familie wieder, Freunde, vor denen wir uns nie verstecken mussten, und die Gewissheit, dass Kyle noch immer bei uns war.
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The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)
Paranormal"Wenn du jemanden verlierst, bei dem du nicht weißt, wie du ihn lieben sollst, weißt du nicht, ob es schlimmer ist, ihn nicht so zu kennen, wie du es glaubst. Aber eins steht fest, allein bist du nie. Denn es gibt immer den Einen, der dich trägt." ...