Ehe ich's mir versah...

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Helen

Kerzenlicht, Menschen in Anzügen und Kleidern und mittendrin ich. Ich verfluchte Kenneth. Wieso hatte er mich nochmal überredet, mitzukommen? Um mich abzulenken, schon klar. Aber hatte er auch bedacht, dass ich mich in der Menge verlaufen würde? Ganz dumpf erinnerte mich dieser Auftritt an einen Heimausflug, auf dem ich mich auf dem Markt verlaufen hatte. Ich hatte eigentlich nur Hunger und wollte wieder zu Mrs. Walter zurück, weil sie die Kekse in der Tasche hatte. Aber die und so ziemlich alle anderen aus dem Heim waren wie vom Erdboden verschluckt, als ich hinter einem Glühweinstand wieder hervorkroch.

So wie Kenneth jetzt.

Vor mir stand ein schwarzhaariger Junge. Er mochte vielleicht neunzehn sein, aber das war nicht das Schlimme, sondern dass er sich anlässlich dieses Balls Koteletten hatte wachsen lassen und bei seinem Milchbubigesicht und dem Psychogrinsen bekam ich eine Heidenangst. Er hatte Ähnlichkeit mit Gibbs, dem gutmütigen Steuermann der Black Pearl aus den Fluch-der-Karibik-Filmen, aber der sah viel netter aus und grinste nicht so geleckt. Von Körperhyhiene hielten sie jedoch beide nichts. Außerdem hatte er einen mehr als unangenehmen Mundgeruch und rückte mir immer näher.

„Hallo, Püppchen", schmierte der Junge. „Wie geht es denn so?"

Wo war Kenneth?

Ich hatte noch nicht oft mit sehr fremden Menschen geredet. Auf dem Internat kannte man sich und ansonsten redete ich Kassiererwelsch: guten Tag, guten Weg, drei Fünfzig macht das, Bitteschön, und auch der Fahrprüfer, der uns allen den Führerschein ausgehändigt hatte (mir natürlich nur auf Bewährung, weil ich eigentlich zu jung war, er es aber mit der ganzen Klasse gemacht hatte), war nicht besonders gesprächig gewesen. Dementsprechend ungeübt war ich im Smalltalk, von dem ich übrigens auch nicht besonders viel hielt. Aber ich war mir sehr sicher, dass das hier mehr als schlechter Dirty-Talk war und von Smalltalk nicht mehr viel hatte.

Kenneth

Okay, bleib cool, Rushworth, es passiert nichts. Helen hat sich nur einen Tequila reingepfiffen und sucht jetzt nach Ablenkung, eigentlich solltest du dich freuen.

Die Gedanken daran, dass sie sich betrunken durch die Menge schob und von allen möglichen und unmöglichen Leuten begrapscht wurde machte die Tatsache, sie gegen einen Drink in der Menge verloren zu haben, nicht besser.

Ich wimmelte die aufdringliche Kellnerin ab und stellte mein Glas auf den nächstbesten Tresen. Dann erhob ich mich über der Menge Köpfe und hielt nach meiner kleinen Helena Ausschau. Hilfe, ich sollte wirklich weniger trinken.

Da war sie. Gott, war der Typ eklig. Eigentlich hätte sie schreiend weglaufen müssen. Aber aus irgendeinem Grund tat sie das nicht. Sie ging mit.

Gut, dann ging ich mal Schlimmeres verhindern. Bevor sie noch auf die Idee kam, den Typen ranzulassen. Scheiße, war ich etwa eifersüchtig? Mochte sein. Doch das Schlimmste wäre, sie nicht vor ihrer eigenen Panik zu retten. Also, auf auf.

Helen

„Soll ich dich auf einen Drink einladen?", fragte der Schwarzhaarige freundlicher. Der Ton war zumindest angemessener. Auch wenn sein schmieriger Blick mir ein bisschen zu oft an den Ausschnitt ging.

„Ja ... gerne", murmelte ich abwesend und sah mich auf Zehenspitzen in der ganzen Menge der Köpfe nach meiner ach so fürsorglichen Begleitung um. Wo war der nur hin?

„Dann komm mal mit", meinte Schwarzkopf plötzlich und packte mich am Handgelenk. Ich war so perplex, dass ich hinter ihm her stolperte. Prompt bereute ich es, neben Kenneth nicht so klein wirken zu wollen, weshalb ich mir hohe Schuhe angezogen hatte. Allerdings wagte ich es nicht, mich an Schwarzkopf festzuhalten. Denn er hatte nasse Hände. Nicht nur schwitzige Hände, sondern richtig nasse Hände. Angeekelt wischte ich sie an meinem Kleid wieder ab, als er mich an der Theke endlich losließ.

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt