Suche...

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Helen

"Entschuldigen sie?", fragte ich den Menschen hinter dem Fahrkartenschalter. Es war gemein, aber ich wusste nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn er blickte finster drein, hatte buschige Augenbrauen und ein kantiges Gesicht, dafür aber eine zu hohe Stimme. "Haben sie diesen Jungen Mann vielleicht vor ungefähr drei Monaten hier gesehen?"

Ich kam mir vor wie ein straftätiger Doppelagent, wie ich ihm (ihr?) so das Foto vor die Nase hielt. Kenneth neben mir hatte sich umgedreht und sah mit den Händen in den Taschen kaugummikauend durch die Gläser seiner dunklen Sonnenbrille dem nächsten Zug entgegen.

"Nein, tut mir leid. An welchem Tag soll er denn hier gewesen sein? Es kann sein, dass mein Kollege ihn gesehen hat."

"Donnerstag", mischte Kenneth sich ein. "Er hatte einen rot-schwarzen Rucksack bei sich und trug ein blaues Shit-Happens T-Shirt."

"Ach, meinen sie vielleicht den jungen Mann, der so unbedingt noch den nächsten Zug nehmen wollte? Das war ein seltsamer Vogel, er hat es sogar in Kauf genommen, im Gepäckabteil zu fahren, obwohl er Geld genug dabei hatte."

Ich wechselte einen Blick mit Kenneth.

"Können sie uns sagen, wo der Zug hinfuhr?", fragte er.

"Lassen sie mich überlegen... das war der einzige Zug, der bis ganz nach London durch fährt diese Woche. Hält an einigen kleinen Orten, bevor er lange Zeit gar nicht hält."

"Wissen sie, bis wo er fahren wollte?", fragte ich.

"Keine Ahnung. So lange habe ich gar nicht mit ihm gesprochen. Aber er hat ein Ticket für London gekauft."

"Gut, haben sie vielen Dank, schönen Tag noch."

Ich wollte mich umdrehen, als der Fahrkartenmensch sich noch einmal an mich wandte: "Der nächste fährt in einer Viertelstunde. Wenn sie mitfahren wollen, kann ich ihnen das besorgen. Sie müssen sich nur beeilen."

Kenneth schob die Brille in die Haare und sah mich fragend an. Ich nickte. Vielleicht wurden wir ja schlauer, wenn wir seinen Weg verfolgten.

Ich bestand darauf, genau so zu reisen wie Kyle. Kenneth fand das zwar nicht nötig, aber ich versuchte, herausfinden wieso Kyle sich im Gepäckabteil vetschanzte, wenn er doch Firstclass hätte fahren können.

Als Kenneth sich auf einen der beiden unbequemen, polsterlosen Plastikstühle gesetzt hatte, vergrub er die Hände in seinen Haaren, blickte zu Boden und gähnte ausgiebig.

"Ich bring ihn irgendwann noch mal um", murmelte er verdrossen. Dann tauchte er aus den Tiefen seiner Müdigkeit wieder auf und sah in mein sorgenvolles Gesicht.

"Wir finden ihn", sagte er zuversichtlich, aber ich wusste, dass das nur Wunschdenken war. Wenn Kyle wirklich nicht gefunden werden wollte, dann half auch diese Suche nicht wirklich etwas.

"Hoffen wir das Beste", entgegnete ich. Kenneth musterte mich, wie ich ein wenig verloren an der Wand lehnte und den Bewegungen des Zuges trotzte. Er schluckte und sah wieder weg. Stirnrunzelnd trat ich neben in und ließ mich auf den Sitz sinken. Hilfe, waren die unbequem.

"Findest du, er hat es verdient?", fragte Kenneth über den klappernden Fahrlärm hinweg und lehnte sich neben mir gegen die Wand. "Ich meine, dass er so allein sein muss. Irgendwas muss das Schicksal doch von ihm wollen."

"Niemand hat es verdient, seine Familie zu verlieren. Am wenigsten er", sagte ich leise.

"Du auch nicht", erwiderte Kenneth, ohne mich anzusehen. "Er hätte das nicht tun dürfen."

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt