Helen
Der LandRover ruckelte auf dem holprigen Pfad durch den Wald. Ich war mir ziemlich sicher, dass er eigentlich nicht für Autos gemacht war, geschweige denn, dass man hier überhaupt fahren durfte. Die Knöchel meiner linken Hand, mit der ich am Türgriff festhielt, waren weiß. Aber nicht etwa, weil ich Angst vor einem Unfall hatte, sondern weil ich gleich meinen Bruder retten würde.
Michael hatte uns nicht aufhalten können. Wie sollte er das auch. Ich wollte Kyle retten und niemand konnte mir das ausreden. Er hatte darauf bestanden, dass wir uns vorbereiteten. Er erklärte uns genau, wie wir relativ unbemerkt zu diesem Ort, dieser Ruine des Todes kommen konnten, und nachdem wir auch brav zu Abend gegessen hatten, tat er etwas Unerwartetes und drückte uns zum Abschied an sich. Er kannte uns gerade drei Tage, aber er schickte schon wieder einen Teil der Familie fort in die Nähe der Hexe. Aus der Fassung traf es nicht ganz, kam seiner hibbeligen, aufgelösten Art aber ziemlich nah.
Ich hätte ihm gern versichert, dass wir wieder kamen, doch das konnte ich nicht. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich das Risiko und konnte nur ohne Angst in seine Augen sehen, bevor wir ihn verließen. Doch vor Kenneth konnte ich das ungute Gefühl nicht verbergen, das sich angesichts des Bevorstehenden immer schneller anschlich. Vielleicht weil er genauso fühlte. Vielleicht weil ich mir hinter Michaels Rücken keine Mühe gab, meine Miene aufrecht zu halten.
Kenneth trat mit festem Blick auf den Weg das Gaspedal nach unten. Ich konnte seine Anspannung nicht nur an dem mahlenden Unterkiefer erkennen.
Die Bäume um uns wurden allmählich lichter und Kenneth drosselte die Geschwindigkeit. Ich konnte seinen Atem hören, wie er sich verlangsamte.
Dann war es da. In der Dunkelheit ragte erst ein bedrohlicher Berg mit scharfen Spitzen in den Himmel, dann nahm er langsam Gestalt an. Kenneth stellte den Motor ab.
Der erste Schritt auf den weichen Waldboden fühlte sich an wie meine Beine; unsicher. Dem Geruch nach war dieser Abend von keinem anderen zu unterscheiden, doch die Tiere waren alle stumm. Keine Grillen sirrten, nirgendwo bewegte sich etwas. Es war, als hielten sie sich von diesem Ort fern.
Vor uns türmte sich eine gewaltige Ruine auf. An sich noch ganz gut in Schuss, allerdings war sie efeuüberwuchert, moosbewachsen und eine Hälfte lag als Schutthaufen neben dem Rest. Die andere Hälfte wirkte majestätisch und irgendwie unwirklich, sodass ich dachte, sie müsse mit Magie zusammengehalten werden. Auch wenn ich nicht wusste, wie das gehen sollte.
„Los?“, flüsterte Kenneth und wandte mir den ernsten Blick zu. Ich schaffte es nicht, die Furcht zu verbannen, bevor ich ihn erwiderte.
„Los“, sagte ich lauter und ruhiger als gedacht.
Es gab keinen Weg. Wir mussten ihn uns durch den Farn am Waldrand bahnen, der den alten Zufahrtsweg überwucherte. Den Blick auf das bedrohliche Gemäuer gerichtet, lief ich darauf zu. Plötzlich war mir eklig kalt und eine unheimliche Gänsehaut schoss über Rücken und Arme.
Als der Boden fester wurde, waren meine Turnschuhe matschig und durchnässt, doch ich versuchte, es nicht zu beachten. Je näher wir diesem Ort kamen, desto kälter wurde mir sowieso. Wir waren hier auf jeden Fall am richtigen Platz.
Der Riss in der Mauer, der uns laut Michael direkt in den großen Saal bringen würde, war gerade einmal so breit, dass wir uns die vier Meter durch die dicke Wand quetschen konnten. Links und rechts stieß ich mit den Schultern an die bröcklige Konstruktion und jede Sekunde hatte ich das Gefühl, dass gleich etwas zusammenfallen könnte, als ich Kenneth in das Innere des ehemaligen Schlosses folgte.
Dann standen wir da. Im Inneren. Der Boden war gefliest, aber die Fliesen waren gesprungen und die Risse voller kleiner Pflänzchen, die sich hoffnungsvoll einen Weg nach oben wuchsen. Jede Mauer war zum Teil mit Efeu bewachsen und nirgendwo waren Anzeichen von Möbeln. Mit Ausnahme eines kleinen Haufens morschem Kleinholz, das irgendwann mal vielleicht ein Tisch hätte gewesen sein können und gegenüber des Risses lag, aus dem wir fast buchstäblich gekrochen waren. Also wenn hier mal jemand gewohnt haben sollte, dann war das mehr als lange her.
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The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)
Paranormal"Wenn du jemanden verlierst, bei dem du nicht weißt, wie du ihn lieben sollst, weißt du nicht, ob es schlimmer ist, ihn nicht so zu kennen, wie du es glaubst. Aber eins steht fest, allein bist du nie. Denn es gibt immer den Einen, der dich trägt." ...