Unmöglich

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Manche Leute sagen: "Das ist doch nicht möglich!". Ich sage, es ist möglich. Alles ist möglich. Oder sagen wir, nichts ist unmöglich. Ich sage, das Unmögliche hängt von den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens ab. Und manche Leute können sich erst etwas vorstellen, wenn sie es schon gesehen haben. Sie glauben an die Realität. An das, was bewiesen ist. An das, "was es gibt". Ich glaube nicht mehr daran, dass es nur das gibt, was bewiesen ist. Mir ist alles möglich. Ich habe Unmögliches gesehen. Ich bin unmöglich. Deshalb glaube ich an das, was nicht möglich ist. Denn das Unmögliche wird möglich, wenn du daran glaubst. Das Unmögliche liegt in dir.

Hey meine Kleine,

weißt du noch, was Papa immer gesagt hat? Nein, wie auch, du warst noch zu klein. Er sagte, du darfst nie an dir selbst zweifeln. Du kannst sein, wer du willst, aber sei es mit allem, was du hast.

Es ist seltsam, dir zu schreiben, während du neben mir auf dem Boden sitzt und mit zornigen Falten im Gesicht versuchst, einen Bauklotz auf einen Stein zu stellen, ohne dass es umfällt. Aber ich weiß genau, dass die Helen, an die ich diesen Brief schreibe, schon groß ist. Wir haben nicht mehr viel Zeit zusammen und ich weiß, dass du mich hassen wirst. Uns. Vati und mich. Aber es tut mir mehr leid, als ich es je beschreiben könnte. Dass ich dich nicht aufwachsen sehe. Dass ich dir nicht helfen kann. Aber ich muss dir erklären. Muss dir sagen, warum.

Du hast vielleicht schon gemerkt, dass etwas an dir anders ist. Ich weiß nicht, was es ist. Aber ich weiß, dass es etwas Besonderes ist. Ich erzähle dir etwas über unsere Vorfahren. Damit du verstehst, damit du weißt, warum du bist, wer du bist. Damit du weißt, warum wir nicht da sind.

Unsere Vorfahren waren ein stolzes Volk. Sie hatten viel Ungewöhnliches an sich. Zum Beispiel zogen sie einmal im Jahr um, auf einen anderen Kontinent. Oder sie aßen ihr Fleisch immer im Stehen. Aber das Ungewöhnlichste von allem waren ihre Fähigleiten. Sie konnten alles. Jeder konnte etwas. Du weißt, wie viel Unmögliches es gibt. Und jetzt denke dir, es wäre real. Denn es ist real. Du bist real. Du kannst es auch. Welche Fähiglkeit auch immer du hast, du wirst lernen, sie zu nutzen, zu beherrschen und zu lieben. Ich war so jung wie du, als ich entdeckte, was ich konnte. Und ich weiß noch, dass ich stundenlang dasaß und es probiert habe. 

Aber mein kleines Stück Unmöglichkeit ist mir nicht von langer Dauer. Und Vatis auch nicht. Denn es ist ein Krieg, den wir kämpfen, weil sie uns töten wollen. Menschen haben Angst vor dem Unbekannten. Wir sind für sie unbekannt. Wir verstecken uns vor ihnen, weil sie uns behandeln wie Tiere. Aber wir sind auch Menschen. Wir haben auch Angst. Und wir wollen die Menschen beschützen, ist das nicht unfair? Erinnerst du dich an das Märchen von dem bösen Zauberer? Es ist wahr. Und wir ziehen nun in den Krieg gegen ihn. Ich wünsche mir so sehr, dass dieser Krieg, der schon seit Jahrhunderten ausgefochten wird, niemals dein Krieg sein wird. Ich weiß, dass es ein unmöglicher Wunsch ist, aber was ist nun unmöglich?

Ich darf dir nicht mehr helfen. Wenn die Menschen diesen Brief finden, jagen sie dich. Du musst herausfinden, was dein Stück Unmöglichkeit ist. Du für dich. Für dich ganz allein.

Doch es gibt noch andere da draußen. Du wirst nicht allein sein. Sie werden dich finden. Sie gehören zu dir. Sie tragen dein Zeichen. Sei vorsichtig und pass darauf auf, es führt dich zu deiner Familie.

Schäme dich nie, kleine Helen, für das, was du bist. Aber behalt' es für dich, es ist der größte Schatz, den du hast.

Ich liebe dich für immer,

Mom

Helen

Seufzend faltete ich den zerlesenen Brief meiner toten Mutter wieder zusammen und schloss meine Finger um das eiskalte Amulett an meiner Halskette. Ich sah mich selbst mit zehn Jahren am Flussufer zwischen Waisenhaus und Gerstenfeld sitzen und diesen Brief immer und immer wieder lesen. Langsam, damit ich jedes Wort verstand, in der Hand das kleine Geflecht aus Eisen, in der Mitte der Adler der Freiheit. Damals wusste ich nicht, was sie damit meinte, aber jetzt. Jetzt konnte ich es endlich verstehen. Damals hatte es gerade angefangen, dieses kleine Stück Unmöglichkeit. Erst unkontrolliert und vollkommen willkürlich, dann lernte ich. Und jetzt... war ich mein eigenes Stück Unmöglichkeit. Ich war hier, ich war ich, mit allem, was ich hatte. Zumindest glaubte ich das.

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt