"Ohnmächtig"

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Der Gang war überraschend voll. Eine Familie mit Kindern parkte ihren ganzen Kram auf dem kleinen Flur, blockierte den Durchgang und ständig kam jemand aus dem Abteil und zog an einer der Reißverschlüsse an den Taschen. Ein Bürokaufmann (zumindest war er so gekleidet) quetschte sich nasrümpfend daran vorbei und schlug dem kleinen Klind dabei fast die Aktentasche um die Ohren. Und eine ältere Frau bemühte sich noch um Wohlwollen, um mit ihren Krücken in die andere Richtung zu gelangen. Der Vater erschien in der Abteiltür und entschuldigte sich maßlos, während er versuchte, Platz auf dem Gang zu schaffen, indem er die Taschen in den Kinderwagen warf.

Kyle und ich bummelten langsam in Richtung Stau. Weil wir es nicht eilig hatten, warteten wir, bis der Vater entschuldigend lächelnd wieder in dem Abteil verschwunden war, nachdem er erfolgreich einen Stapel neben seiner Tür aufgebaut hatte, an dem man nun einigermaßen stolperfrei vorbei kam.

"Wenn ich mal Kinder haben sollte, fahre ich nie Bahn", murmelte Kyle und pustete mir ins Ohr, so nah war er. Ich blieb stehen, zog den Ellenbogen zurück und stieß ihm leicht in die Rippen. Dann grinste ich herausfordernd und drehte mich um.

Das Grinsen gefror mir. Kyle blickte starr und panisch durch mich hindurch und hielt die Hand auf den Bauch gepresst. Er wurde käseweiß im Gesicht und seine Hand zitterte. Vorsichtig berührte ich sie und merkte, dass sie ganz klamm war. Zuerst dachte ich, ich hätte richtig zugeschlagen, doch in der nächsten Sekunde wusste ich, dass das an seinen Bauchmuskeln gescheitert wäre. Blieb nur noch eine Möglichkeit.

"Geht es wieder los?", fragte ich besorgt. Kyle nickte und kniff die Augen zusammen. Er stützte sich an die Wand und atmete einmal tief ein und aus. Ich sah mich um. Die nächste Toilette war nicht weit entfernt. Allerdings stand ein Opa davor und trommelte ungeduldig an die Tür. Leider war diese Toilette unsere einzige Möglichkeit, nicht sofort irgendwelche Sanitäter auf den Plan zu rufen. 

"Kannst du es noch halten?", fragte ich. Kyle riss sich buchstäblich zusammen und nickte erneut. Sein Gesicht nahm langsam die Farbe von Grünschimmel an.

Ich schlang den Arm um seine Mitte, stützte ihn so und torkelte mit ihm durch den Gang. Sein Arm lag schwer über meiner Schulter, aber es störte mich kaum.

Als wir an der Toilette ankamen, öffnete sich die Tür und eine junge Frau trat heraus. Sie warf einen missbilligenden Blick auf den Opa und verschwand in der Tür zum nächsten Wagon. Der Opa jedoch hatte keinen Blick dafür übrig, er starrte Kyle mitleidig an und hob fragend die Augenbrauen.

"Entschuldigung, könnten wir vielleicht da 'rein? Uff. Meinem Freund... geht es nicht gut", sagte ich und hievte Kyles Arm wieder über meine Schulter. Er war mit Sicherheit nicht mehr ansprechbar.

"Willst du nicht lieber einen Doktor für den Jungen rufen?", fragte der Opa besorgt und musterte Kyles grünes Gesicht.

"Nein! Nein, das ist nicht nötig", versuchte ich möglichst glaubhaft sorglos herüber zu bringen. Dabei bekam ich gerade Panik, weil ich bemerkte, wie Kyles Hand mir aus den Fingern glitt. "Er kriegt das immer, wenn er Zug fährt. Das geht gleich wieder weg."

Arzt wäre jetzt das Allerschlimmste, was passieren konnte.

"Na gut", brummte der Opa und trat einen Schritt zur Seite. Er sah uns hinterher, wie wir im Klo verschwanden und er starrte mit Sicherheit auch auf den roten Schiebregler, mit dem ich die Tür abschloss.

Drinnen war mir der Rest egal. Das Klo war für eine Bahntoilette ziemlich sauber. Trotzdem war nicht gerade viel platz hier drin und zu zweit war es noch enger. Ich schloss den Klodeckel, damit man zumindest diesen unappetitlichen Geruch nicht ständig in der Nase hatte, wobei ich Kyle beinahe fallen ließ.

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt