Zuhause

77 7 0
                                    

Das Cottage war klein, gemütlich, abgelegen, unerreichbar... der Arsch der Welt. Mitten auf einer riesigen Lichtung im Wald. Wir brauchten ganze vier Stunden vom Bahnhof, um hinzufinden. Zum Glück konnten wir das Gepäck dort lassen. Drei große Koffer durch das Unterholz zu schleppen, war nicht gerade das bequemste Unterfangen. Und meine Fähigkeit, zu springen wohin ich wollte, machte den Weg um ein Vielfaches leichter.

Nach einem verschlugenen Pfad durch tiefhängende Äste, unter denen nicht einmal die Wachsfigur von Jedi-Meister Yoda aus Star Wars hindurchgepasst hätte, einem endlosen Streitgespräch über diese alten deutschen Käfer (Rate, wer daneben lief und durchgehend genervt seufzte) und dem schönsten Ausblick auf ein sumpfiges Schlammloch, das sich haus- oder cottageigener Badesee schimpfte (immerhin wussten wir dann, wo wir waren), bog Kenneth einen Zweig zur Seite.

Aprupt blieb er stehen und Kyle latschte in ihn hinein.

"Wow!", hauchte Kenneth. "Leute... der Weg hat sich gelohnt."

Das hatte er sich wirklich. Das Cottage war groß. Viel zu groß für einen allein und ich war mehr als froh, dass ich nicht allein war. Das Dach war moosbedeckt und die verstaubten Fenster voller Spinnenweben. Die Steinplatten, die den Weg zur Tür markierten, waren von Gras zugewachsen, und überhaupt war das Gras so hoch, dass es uns fast bis zu den Armen reichte. Hier war garantiert lange keiner mehr gewesen.

"Und das krasse Teil vererbt dir deine Mutter einfach so?", fragte Kenneth fasziniert und blickte zu dem Adler über der Tür auf. Meine Hand wanderte zu dem Medaillon an meinem Hals und strich über die feinen Einkerbungen an den Flügeln. Es war derselbe Adler, kein Zweifel. Hier waren wir definitiv richtig.

"Willst... du zuerst rein?", fragte Kenneth höflich und sah mich an.

"Ja, klar...", anwortete ich und streckte langsam die Hand nach der Türklinke aus. Hier war ich aufgewachsen? Hier hatte ich die ersten zwei Jahre meines Lebens verbracht? Mir kam nichts an diesem Ort bekannt vor.

Die Tür war nicht verschlossen. Als ich sie öffnete, offenbarte sich uns ein großer Raum mit einem Wohnzimmer, das aussah, wie gerade erst verlassen. Es war beinah wie auf einer Reise in die Vergangenheit. Auf dem Sofa lagen zerknüllte Decken und auf dem Tisch standen sogar noch Weingläser. Der Staub auf ihnen hatte den Rest der roten Flüssigkeit darin zu Klumpen werden lassen. Das und die dicke Staubschicht auf den Möbeln zusammen mit den Fliegenleichen auf den Fensterbänken erinnerte uns daran, dass hier seit mehr als einem Jahrzehnt keiner mehr gewesen war.

Kyle machte ein paar vorsichtige Schritte in den Raum und die Dielen knarzten unter seinen Sohlen. Er runzelte die Stirn und betrachtete ein Foto zweier Menschen, einem Mann und einer Frau, das auf dem verstaubten Kaminsims stand. Es war das einzige Foto oder Blid hier im Raum. Von mir gab es keine Fotos. Das verwirrte mich ein wenig, aber vermutlich gab es dafür auch noch eine Erklärung. Ich hoffte, dass meine Mutter mir noch irgendeinen Brief hinterlassen hatte.

Unsicher trat ich neben Kyle und mein Blick blieb an dem verschmitzten Grinsen des Mannes hängen. Meines Vaters. Ich stellte fest, dass er die Braue gehoben und das Auge zugekniffen hatte, wie auch Kyle es manchmal tat. Meine Mutter neben ihm war wunderschön. Mit meinem eigenen Gesicht strahlte sie mich glücklich an, außer den Augen, die ich von meinem Vater haben musste, sah ich fast in ein Spiegelbild. Nur, dass auch hierauf der Staub das Bild wie alles andere alt aussehen ließ. Aus vergangenen Zeiten. Und jetzt waren sie beide tot.

Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Aber wütend war ich nicht. Ich wusste, dass sie es für mich getan hatten. Für mich, Kyle, Kenneth und alle anderen Unmöglichen. Und es war richtig. Nur eben schade, dass ich sie nie kennenlernen würde.

Eine einsame Träne rann mir aus dem Augenwinkel die Wange hinunter. Doch ich lächelte.

Kyle sah mich von der Seite an. Er legte einen Arm um mich und drückte mich dann fest an sich. Meine Eltern hatten hier ihr Zuhause aufgebaut. Jetzt würden Kyle und ich, und natürlich auch Kenneth, unseres daraus machen. Kyle küsste mich sanft und ich atmete seinen Duft tief ein.

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt