Ein hässlicher Ort zum Leben

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Helen

Ich fuhr. Keine Ahnung wohin, nur weg von dem Hang. Weg von der Klippe, unserem Beinahe-Kuss und vor allem weg von dem Tod. Ich sprang mehrfach in der Gegend herum. Mitsamt Auto und einem bewusslosem Kenneth auf der Rückbank. Ich war so geschockt, dass mir nicht einmal wirklich schlecht war.

Ich hatte Angst. Nackte Angst. Meine Hände am Steuer zitterten und ich betete, dass Kenneth noch lebte. Ich konnte nicht verstehen, was eben passiert war. Aber ich wusste, dass der Tod seine Finger im Spiel haben würde, wenn wir nicht schleunigst davon weg kamen.

Ich starrte nur die Straße an. Am immer dunkler werdenden Horizont tauchten Gebäude und Lichter auf. Eine Stadt. Da mussten wir hin.

Ich weigerte mich, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Ich wusste auch so, was ich sehen würde. Kenneths kompletter Rücken war verbrannt. Nacktes Fleisch und verkohlter Stoff von seinem Hemd. Eine Nuance heißer und er wäre verglüht.

Ich wusste, dass Kenneths Wunden schneller verheilten, als es normal war. Aber ich wusste nicht, ab dem wievielten Verbrennungsgrad das nicht mehr ging. Ich konnte nur das Beste hoffen. Denn neben der ganzen Panik und dem Überrumpelt sein fühlte ich noch etwas. Es war ein einziges Wort, das in dem Moment in mein Herz geschrieben wurde, in dem ich in Kenneths blaue Augen sah, als er die Klippe hinunter fiel. Vier Buchstaben, deren jedes Ende auch dem Ende meiner Verwirrung immer näher kam: N-E-I-N.

Kenneth

Ich erwachte wieder. Ich war nicht tot. Ich hatte Schmerzen, mein Rücken brannte und der Selbstheilungsprozess war ein wenig langsamer als sonst, aber ich lebte. Ich lag auf einem Bett. Die geblümten Vorhänge um mich herum waren erstaunlich hässlich und ich hätte schwören können, dass ich neben meinem eigenen verbrannten Fleisch den muffigen Geruch von verstaubten Tennissocken wahrnahm. Aber ich war viel zu gelähmt, um mich aufzurichten.

Helens Gesicht erschien über mir. "Hey...", sagte sie und begutachtete meine Augen, während sie mir sacht das Haar aus der Stirn strich.

"Hey", erwiderte ich nicht ganz so cool, wie ich gehofft hatte. Ich spürte, wie zumindest die Haut an meinen Armen wieder heilte und das Brennen dort aufhörte.

"Wie geht's dir?", fragte sie vorsichtig. Ich hob testweise einen Arm. Dann versuchte ich, mich aufzusetzen. Es funktionierte ganz gut. Zwar musste ich das Gesicht verziehen, weil die Haut auf meinem Rücken noch zu empfindlich für diese Bewegung war, aber es ging.

"Blendend", sagte ich. Auch das kam nicht so cool wie gehofft. Dennoch blickte ich in ihr sorgenvolles Gesicht und lächelte. Mein Blick wanderte zu der Tapete hinter ihr. Das war alles so altbacken hier. Als hätte jemand die Zeit in die Fünfziger zurückgedreht und uns nach Deutschland verfrachtet. Ein Roman, den ich gelesen hatte, spielte hauptsächlich in einem Zimmer wie diesem hier.

Die Blümchen an den Tapeten auf den Wänden waren kaffeebraun und die braunen Möbel waren mit Spitzendeckchen belegt. Auf einem kleinen Tisch stand ein grünes Uralt-Telefon und daneben lagen Visitenkarten, Kugelschreiber und eine Broschüre, die mich wissen ließen, dass wir in einem Motel sein mussten. Nicht gerade mein Geschmack.

"Wo sind wir?", fragte ich.

"Keine Ahnung, wie der Ort heißt", antwortete Helen mit erstaunlich starker Stimme. "Ich bin einfach so weit gefahren wie es kam. Wir sind aber trotzdem noch in der Nähe von unserer Klippe... glaube ich. Und... irgendwie auch nicht ganz so weit vom Cottage weg."

"Du... Was ist passiert?" Gespannt sah ich sie an. Helen seufzte und knetete ihre Finger. Sie schien auf der einen Seite verwirrt, auf der anderen wusste sie, was es war. Wer es war.

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt