Der Krieg begann

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Helen

Es war grau, nass und roch nach Abfall. Die Gasse, durch die uns der Mann führte, endete auf einer kleinen Straße, in der genau so wenig los war, wie in dem Park. Aber es war nicht die Straße, in der Kyle wartete.

Als das Licht der ersten Straßenlaterne den Mann erreichte, erkannte ich schmutzig blondes, gelocktes Haar. Haar, das Kenneths sehr ähnlich sah. Ich blickte zu ihm auf und entdeckte zusammengezogene dunkle Augenbrauen und einen stummen, ahnenden Blick. Er hatte meine Hand losgelassen und schien Abstand zu brauchen, den ich ihm gewährte. Was wusste er, das ich nicht wusste?

Wir folgten dem Mann in die Einfahrt zu einer mehr als riesigen Villa. Und ehe ich die Größe der hohen weißen, verschnörkelten Wände bewundern konnte, stieß er auch schon die Tür auf. Er kickte sie mit seinem Stock beiseite und ohne sein Gesicht zu zeigen, bedeutete er uns, einzutreten.

"Hast du das gesehen?", murmelte ich und nickte mit dem Kopf nach oben. Über dem Türrahmen in den weißen Stein gemeißelt prangte der Adler der Freiheit, das Zeichen der Unmöglichen. Kenneth nickte abwesend, aber er machte keinerlei Anstalten, sich umzusehen. Sein Interesse galt allein dem Mann, der jetzt hinter uns die Tür schloss und dann auf eine weitaus kleinere zuging.

Die Halle im Inneren war genau so beeindruckend wie die Fassade draußen. So alt das Marmor auch wirkte, es war beständig, majestätisch und einfach riesig. Das Holz der Treppe war dunkel angelaufen und abgegriffen, aber es knarzte nicht, als ein Mädchen auf ihm die Stufen zu uns hinunter ging. Sie war klein, kleiner als ich, aber ihr Gesicht sagte mir, dass sie mindestens so alt war wie Kyle. Sie schenkte uns keine Beachtung. Als sei es etwas Normales, dass zwei völlig Fremde in diese Villa kamen. Bei näherem Hinsehen entdeckte ich im Gang oben über dem Eimgangsaal und im Flur, der unter ihm in einen anderen, größeren Raum führte, noch mehr Menschen, die uns keine Beachtung schenkten. Sie waren jung. Alle höchstens Anfang dreißig. Keine alten Männer und Frauen. Und sie alle trugen den Adler an einer Kette um den Hals, mit Ausnahme des Mädchens, die es am Handgelenk als Armband trug, wie ich deutlich erkennen konnte, bevor sie hinter mir in einem weiteren Raum verschwand.

Der Mann schloss die Tür hinter mir, nachdem Kenneth und ich eingetreten waren. Das Zimmer war wie eine Bibliothek. Oder ein Büro, denn in der Mitte stand ein riesiger Schreibtisch, dahinter ein schwarzer Ledersessel. Und die hohen Wände waren bis obenhin mit vollen Bücherregalen zugestellt. Nur direkt hinter dem Schreibtisch prangte ein riesiges Fenster im alten Stil. Es war schon ein beinahe gespenstischer Anblick, als der Mann sich an den Tisch setzte, die Ellenbogen abstütze und seine Finger verschränkte, und sein Schatten auf das dunkle Holz fiel.

Jetzt konnten wir sein Gesicht sehen. Es war kantig, hatte eine gerade Nase, einen ausgeprägten Kiefer, dichte, dunkle Brauen und tiefblaue Augen.

Mit angehaltenem Atem sah ich Kenneth an. Der Mann vor ihm war er in alt. Seinem Gesicht nach zu urteilen, dachte er gerade dasselbe wie ich. War dieser Mann...

"Mein Name ist Michael Rushworth und ich bin nicht dein Vater."

Er lächelte Kenneth an. Doch der erwiderte seinen Blick nicht gerade freundlich. Er starrte finster auf sein Gesicht und beobachtete schweigend und wachsam jede Bewegung.

"Ich glaube, es klingt abgebrüht, wenn ich behaupte, ich würde mich freuen, euch zu sehen, oder nicht?", fuhr Michael unbeirrt fort. "Aber es stimmt." Er ließ die verschränkten Hände sinken und blickte sie nachdenklich an. "Wo fange ich nur an...?"

"Vielleicht von vorne?", schlug ich vor, nebenbei fand ich, dass meine Stimme blöd klang. Aber mich interessierte mehr, was dieser Mann zu sagen hatte.

"Ja, von vorne klingt gut", meinte er und schenkte mir ein Zwinkern, ehe er begann. Er machte keinen bösen Eindruck auf mich. Ich mochte die Art, wie er sich bewegte, wenn er redete. Es strahlte eine gewisse Herzlichkeit aus, wie ein Märchenonkel, der einem Geschichten erzählte. Nur leider waren es keine Märchen, sondern die Vergangenheit. Die Wahrheit. Und hinter ihm beschrieb das Stück Sonne, das durch die Wolkendecke fiel, einen schönen Bogen, während er erzählte.

The Impossible Ones - Vergiss mich nicht [NICHT AKTUELLE VERSION)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt