76 Von Feen und Seefahrern

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Stiles war der Abschied von Wyoming schwergefallen. Mittags waren er und Derek abgereist und nun saßen sie ein weiteres Mal in dessen komfortablem Privatjet, welcher Stiles mittlerweile eigenartig vertraut und heimelig vorkam. Das Fliegen selbst hingegen war für ihn immer noch spannend und aufregend.

Die meiste Zeit beobachtete er einfach bloß durch das Fenster, wie sich unter ihnen die Landschaft veränderte. Sie flogen Richtung Nordosten, also praktisch vorwärts in der Zeit. Und wo auch immer ihr nächstes Ziel liegen mochte, sie hatten offenbar einen weiten Weg vor sich. Es ging einmal quer über Southdakota, Northdakota, dann verließen sie die USA und befanden sich über Kanada. Irgendwann waren sie über dem Atlantik und da wurde es bereits Nacht, obwohl es nach Stiles Uhr gerade erst früher Abend war. Der Blick auf den dunkeln Ozean hatte etwas hypnotisches und nach einer Weile war Stiles in seinem bequemen Sitz ganz einfach eingeschlafen. Als er wieder erwachte, war unter ihnen in der Dunkelheit eine verschneite Landschaft zu sehen. Das musste Grönland sein, richtig? Wohin entführte ihn Derek denn bloß?

Das verriet ihm sein frischgebackener Ehemann natürlich wieder einmal nicht. Vielmehr nutzte dieser den Langstreckenflug schon die ganze Zeit, um zu arbeiten. Wenn er nicht gerade etwas las, oder schrieb, war er am Telefon, oder führte am Bildschirm geschäftliche Verhandlungen.

Stiles musste es wohl ganz einfach abwarten.

Irgendwann machte der Geschäftsmann dann jedoch Feierabend, sie nahmen ihr Abendessen ein und es wurde Zeit zum Schlafengehen.

Es wurde jedoch nur eine kurze Nacht. Laut Ortszeit war es an ihrem Zielort sieben Uhr dreißig am Morgen, doch für Stiles inneren Chronometer war nach dem elfstündigen Flug gerade mal eine halbe Stunde vor Mitternacht. Er war komplett durcheinander, als ihm an dem kleinen Flughafen mitten im Nirgendwo die Morgensonne ins Gesicht lachte:

„Wo zur Hölle bin ich?" fragte er seinen Gatten ein wenig mürrisch.

Derek hatte offensichtlich nicht so große Probleme mit dem Jetlag, doch natürlich war der Geschäftsmann auch schon des öfteren in seinem Leben um den Globus gejettet:

„Dies hier ist Nordkapp. Es ist der nördlichste Zipfel Norwegens. Zieh' besser eine Jacke über, denn es ist frisch hier." erwiderte er munter und reichte Stiles das Kleidungsstück: „Und verabschiede dich vom Jet. Wir werden ihn so bald nicht wiedersehen."

Stiles blickte Derek staunend an, doch er ließ dessen Aussage unkommentiert und zog sich brav die Jacke über. Derek war der Reiseleiter und er allein wusste, wo es langging. Damit hatte sein Mann sich abgefunden.

Ihre Weiterfahrt erfolgte in einem geliehen Geländewagen, welcher von hilfreichen Geistern bereits mit ihrem Gepäck beladen worden war und dann fuhr Derek sie zwei Stunden lang durch eine Natur, wie Stiles sie noch niemals gesehen hatte. Die Eiszeiten hatten den felsigen Untergrund gebogen, zerschrammt und stellenweise förmlich zerrissen, doch über die Spuren dieser Naturgewalt hatte sich heutzutage ein weiches, harmlos wirkendes Polster aus Flechten, Moosen und Gräsern gelegt. Es ging durch eine praktisch baumlose Landschaft, vorbei an vielen kleinen und größeren Seen und zeitweise auch direkt an der Küste entlang. Ein wenig monoton wirkende Ebenen wechselten sich ab mit felsigen Erhöhungen und auf der endlosen Landstraße waren sie beinahe die einzigen Menschen. Zeitweise konnte man fast glauben, die Welt sei untergegangen und man habe lediglich vergessen, ihnen Bescheid zu geben. Und dann tauchte urplötzlich aus der Ferne doch noch ein Lastwagen auf und holte einen in die Realität zurück. Und über dieser ganzen Kulisse erstreckte sich ein endloser blauer Himmel mit schweren, üppigen Wolkengebirgen. Hatte Derek zuvor nicht etwas von Feen gesagt? Stiles hatte keinen Zweifel, wenn es irgendwo auf der Welt welche gab, dann lebten sie genau hier, verbargen sich zwischen den ewigen Felsen und folgten ihren uralten Weisen.

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