Kapitel 15

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Die restliche Nacht verbrachte ich mit Colette hinter der Bar, redete über Familie und Freunde und alles, was wir an unserem Leben vermissten. Als die Uhr schließlich auf 6 Uhr sprang, stand ich schweren Herzens auf und umarmte Colette ein letztes Mal.

"Viel Glück", flüsterte sie mir ins Ohr.

Ich wollte etwas erwidern, doch ich wusste nicht was. Nichts, was ich jetzt sagte, würde ihren Schmerz ungeschehen machen. Ein letztes Mal drückte ich noch ihre Hand, dann drehte ich mich um und lief zurück in mein Zimmer. Dort faltete ich den zerknitterten Brief auf. Ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich ihn mir Wort für Wort eingeprägt hatte. Als ich sicher war, dass ich auch ja nichts vergessen hatte, zerriss ich ihn in kleine Stücke und schmiss diese in den Mülleimer unter dem Schreibtisch.

Ein Klopfen ertönte. Ich öffnete. Mit genauso ungebändigten Haaren wie beim ersten Mal, als ich ihn gesehen hatte, stand Erlo vor der Tür, genau wie an dem Tag ein weißes Klemmbrett im Arm.

"Bereit für einen letzten Durchgang?", fragte er.

Auf dem Weg durch die Gänge wiederholte ich noch einmal die Checkliste, die Owena uns geschrieben hatte. Inzwischen konnte ich sie ohne Probleme fehlerfrei vortragen. Problematisch würde eher werden, wie Lucas und ich diese Punkte am Ende umsetzen sollten. Doch das war ein Problem für später.

Ich hatte keine Ahnung wo Erlo mich hinführte, doch je weiter wir gingen, desto nervöser wurde ich. Nach einigen Minuten blieben wir an einer unscheinbaren Tür stehen.

 "Warte hier. Owena und Lucas sollten auch gleich kommen", sagte Erlo. Er nickte mir noch ein letztes Mal zu, dann drehte er sich um und ging in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren.

"Warte", rief ich.

Erlo blieb stehen.

"Was ist mit dir?", fragte ich.

Er sah mich verwirrt an. "Was meinst du?"

"Naja, wenn ich gehe und in die Zwischenwelt nicht mehr zurück komme, seh ich dich dann nie wieder?"

Erlo schnaufte amüsiert. "Natürlich siehst du mich dann nie wieder. Ich werde zu meiner Arbeit zurückkehren, so wie du zu deinem Leben. Was soll denn sonst passieren?"

Ich starrte ihn an, öffnete den Mund um etwas zu sagen- dann schloss ich ihn wieder. Mit schnellen Schritten ging ich auf ihn zu, dann hob ich die Arme und zog ihn in eine feste Umarmung. Erst bewegte Erlo sich nicht, stand wie eingefroren da, dann tätschelte er mit einer Hand seicht auf meinen Rücken. Als ich mich von ihm löste, sah er mich mit einem undeutbaren Blick an. Doch anstatt etwas zu sagen lächelte er nur leicht und ließ mich vor der Tür zurück.

Keine drei Minuten später kamen Lucas und Owena ebenfalls an der Tür an. Während Owena Lucas noch einige letzte Anordnungen gab, blendete ich das Gespräch aus und musterte ihn von der Seite. Das weiße T-shirt, das auch ich seit meiner Ankunft hier trug, hatte er in die ebenso weiße Hose gesteckt und auch die Schleifen seiner Schuhe hatte er seitlich neben die Füße gestopft. Im Vergleich zu mir sah er so fast ansehnlich aus. Auch die totenhafte Blässe, die mich wie eine Leiche aussehen ließ, wurde von seinen dicken Sommersprossen überdeckt, die sein Gesicht und seine gesamten Arme bedeckten. Während er Owena aufmerksam zuhörte, biss ich mir nervös auf die Unterlippe. 

Ich blinzelte ein paar Mal, um mich aus meiner Starre zu befreien, dann räusperte ich mich. "Können wir?" Das hier wollte ich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich wollte gar nicht wissen ob es wehtun würde zurück in seinen Körper geworfen zu werden. Ich wollte überhaupt nichts darüber wissen. Wenn ich zu viel darüber nachdachte, machte ich nachher noch einen Rückzieher.

Owena nickte und ging an Lucas und mir vorbei zur Tür. "Stellt euch zusammen."

Lucas Schulter stieß gegen meine.

"Augen zu."

Ich gehorchte, noch immer versucht, meinen Kopf von jeglichen Gedanken frei zu halten.

"Haltet euch aneinander fest, dann ist es leichter." Mit geschlossenen Augen griff ich nach Lucas Hand. Als sich unsere Finger berührten, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

"Haltet die Augen zu und geht langsam auf mich zu", wies Owena uns an.

Hatten wir gerade nicht schon direkt vor der Tür gestanden? Doch Lucas setzte sich bereits in Bewegung und zog mich mit nach vorne. Nach einigen Schritten wurde ich plötzlich nach unten gerissen, als wären wir schnurstraks über das Ende einer Klippe gelaufen. Dann verlor ich das Bewusstsein.


EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt