Kapitel 31

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Es dauerte einige Stunden, bis Navarro und die zwei Typen zurück kamen, Stunden, die wir schweigend verbrachten. Die Blutergüsse auf Lucas Brust waren ein wenig dunkler geworden und auch die Blutlache, die sich unter ihm angesammelt hatte, war größer geworden, doch noch hielt Lucas den Kopf oben und die Augen offen.

Während er vermutlich alles versuchte, um sich aus seinen Handfesseln zu befreien, dachte ich fieberhaft darüber nach, was ich tun sollte, wenn Navarro zurück kam. Egal, wie ich die Situation auch drehte und wendete, am Ende stand immer Navarro als Gewinner da. Selbst wenn wir es schafften zu fliehen, würden wir nicht weit kommen. Jetzt, wo Navarro uns auf dem Radar hatte, gab es keinen Wald, keinen Berg, keine verlassene Insel, wo wir vor ihm sicher waren. 

Alles, was wir tun konnten, war, das unvermeidliche Ende hinauszuzögern, zu hoffen, dass es noch irgendetwa gab, was wir nicht bedacht hatten, ein verstecktes Ass im Ärmel, mit dem wir-

"So. Habt ihr ein wenig nachdenken können?" riss Navarros Stimme mich aus den Gedanken. Einer der beiden Männer, der blonde, hatte einen Stuhl mitgebracht. "Wie ihr seht, wir haben Zeit und sehr viel Geduld mitgebracht." Navarro musterte Lucas, dessen Kopf kraftlos nach vorne hing. "Nun gut, so viel Geduld nun auch nicht."

"Bitte", murmelte ich schwach. Ich wusste nicht einmal, warum ich das tat. Vermutlich war es sowieso zu leise, als dass Navarro es gehört hätte.

"Versuchen wir es mal mit der Dame", sagte er lächelnd, stand auf und stellte den Stuhl vor mich. Ich schluckte, machte den Rücken gerade und wappnete mich für den ersten Schlag. "Ich gebe dir eine Chance Arin. Eine." Er hielt drohend den Zeigefinger in die Höhe. "Wie seid ihr aus der Zwischenwelt zurück gekommen?" Ich schwieg und sah zu Boden.

"Na mach schon", hörte ich Navarro sagen. 

Ich schloss die Augen. Doch statt den Schlag zu spüren, hörte ich ihn nur. Ich riss die Augen auf. Der blonde Typ stand noch immer vor Lucas, auf dessen Stirn nun eine neue Platzwunde leuchtete. Doch als er den Kopf hob, sah er mich fast schon erleichtert an. 

"Was soll das?", fragte ich entgeistert. "Warum schlägst du ihn, nicht mich?"

Navarro sah mich mit gehobener Augenbraue an. "Du willst geschlagen werden? Bitte."

Er holte aus und schlug mich mit der flachen Hand ins Gesicht. Meine Wange brannte ein wenig, doch ich hatte schon weitaus härtere Backpfeifen ertragen müssen.

"Das ist schon ziemlich sexistisch, wenn man mal darüber nachdenkt, nicht? Ihn schlägst du, bis ihm die Zähne ausfallen und mir gibst du eine Ohrfeige? Komm schon. Wir sind hier nicht im-"

Der Schmerz, der mich jetzt überkam, ließ mir das "Mittelalter" im Hals stecken bleiben. Ich keuchte.

"Besser?", fragte Navarro. Ich nickte, noch immer eine schmerzerfüllte Grimasse im Gesicht.

"Vielleicht kannst du mir ja jetzt meine Frage beantworten."

Ich schüttelte den Kopf und richtete mich wieder auf. Auch die nächsten Fragen ließ ich an mir vorbei ziehen, als würde ich sie nicht einmal wahrnehmen. Navarro schnalzte enttäuscht mit der Zunge.

"Du hast recht", sagte er zum blonden Typen. "Sie ist ihm wirklich egal."

Der Stuhl quietschte ein wenig, als Navarro ihn zurück zu Lucas zog.

"Wollen wir doch mal sehen, ob das andersherum auch der Fall ist."

Nach einigen Minuten merkte ich, wie viel angenehmer es war, selbst geschlagen werden, als sehen oder hören zu müssen, wie sich Lucas langsam aber sicher dem Tod entgegen neigte. Schon seit ein paar Fragen hatte er nicht einmal mehr den Kopf gehoben. Vermutlich war er endlich bewusstlos geworden, als der Typ in das letzte Mal an der Schläfe getroffen hatte. Doch das schien Navarro nicht zu stören. Müde sah er dabei zu, wie Lucas Kopf hin und herflog, ohne, dass sich der Körper selber regte. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, winkte er ab.

"Holt mich, wenn er wieder wach ist." Dann stand er auf und verließ er die Hütte. 

Es dauerte lange, bis Lucas wieder zu Bewusstsein kam. Nach ein paar Stunden bemerkte ich, dass die blauen Flecken an seiner Brust langsam verblassten. Auch die Platzwunde an der Stirn verheilte. Das konnte nur eins bedeuten. Lucas war nicht nur bewusstlos gewesen, er war tatsächlich gestorben. Kurz wunderte es mich, dass er so lange gebraucht hatte, um zurückzukommen, doch an seiner Stelle hätte ich vermutlich gleich aufgegeben und wäre in der Zwischenwelt geblieben. 

Als auch einer der Typen Lucas Heilung bemerkte, ging er nach draußen, nur um einige Minuten später mit Navarro im Schlepptau zurückzukehren. Dann begann alles von neuem.

Ich konnte nicht sagen, was genau es war, aber irgendwann zerbrach etwas in mir. Irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr mit ansehen, Lucas so leiden zu sehen. Es war mir egal, was er vorhin gesagt hatte. Es war mir egal, ob er mich hasste oder ich ihm egal war. Wir mussten hier raus und sein eigener Plan hatte uns seit Stunden nirgendwo hingebracht. Ich musste etwas tun.

"Stop", schrie ich. Der blonde Typ hielt inne und wartete auf einen weiteren Befehl von Navarro.

"Lass ihn in Ruhe. Bitte", flehte ich.

Navarro seufzte. "Ich will nur die Wahrheit, das ist alles."

Ich sah zu Lucas. Er hatte den Blick auf Navarro gerichtet. Ich sah es in seinen Augen. Er war bereit durchs Feuer zu gehen und noch hundert mal zu sterben, bevor er Navarro irgendetwas preisgab. Pech. Ich war nicht bereit, mir diese Tode anzusehen.

"Okay, okay", sagte ich also beschwichtigend. "Du hast gewonnen. Lass ihn in Ruhe."

Navarro trat vor mich und sah mich erwartungsvoll an.

"Ich geh mit dir. Ich werde mich nicht wehren und ich werde dir alles erzählen, was ich weiß. Wenn du Lucas gehen lässt."

"Nein. Nein, Arin", brüllte Lucas, doch es war zu spät. Navarro nickte den beiden Typen zu. Gemeinsam fingen sie an, Lucas von den Fesseln zu befreien. Der war entschieden, sich nicht von ihnen aus der Hütte zerren zu lassen. Mit allem, was er hatte, stämmte er sich ihnen entgegen. Als seine Arme endlich frei waren brauchte es keine Sekunde, da ging er auch schon auf die beiden los. Es brauchte drei zusätzlich hinzugerufene Männer, um Lucas erneut zu fixieren und aus der Hütte zu tragen.

"Was passiert jetzt mit ihm?" fragte ich Navarro. Der zuckte mit den Schultern. "So, wie der sich eben angestellt hat, wird es nicht angenehm für ihn, fürchte ich."

Ich schluckte. "Du hast es versprochen."

"Und dieses Wort werde ich halten. Der Junge wird nicht noch einmal sterben müssen. Zumindest nicht durch meine Männer. Wenn sie mit ihm fertig sind, werden sie ihn irgendwo an der Landstraße absetzen, schön weit entfernt natürlich, damit niemand allzu schnell auf diesen Ort kommt."

So sehr es mir wehtat zu wissen, was nun mit Lucas passieren würde, so sehr wusste ich auch, dass ich nicht mehr für ihn tun konnte. Vielleicht war es gut so. Wenn er schlau war, konnte er vielleicht irgendwie zu seinem Leben zurückkehren. Zumindest zu dem, was davon noch übrig war. So lange, wie er nicht starb, würde Owena ihn vielleicht in Ruhe lassen.

"Aber Lucas weiß, wo wir sind", fiel mir ein.

"Ja, und deswegen werden wir diesen Ort auch verlassen müssen." Navarro trat hinter mich und begann, meine Fesseln aufzuknoten.

"Du hast die richtige Entscheidung getroffen, Arin", sagte er, als meine Hände und Füße befreit waren. Ich stand auf, fiel aber sofort wieder zurück auf den Stuhl. Nach all der Zeit, die ich gefesselt gewesen war, war mein Körper einfach zu kraftlos, um aufzustehen. Ohne etwas zu sagen nahm Navarro meinen Arm, legte ihn sich um die Schulter und hob mich hoch. Dann trug er mich aus der Hütte hinaus.

"Du hast sicher Hunger. Möchtest du etwas essen?"

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt