Kapitel 32

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Navarro trug mich ins Auto, setzte sich auf den Fahrersitz und fuhr los. Aus dem Augenwinke konnte ich gerade noch sehen, wie zwei seiner Männer in einen weiteren Wagen stiegen und hinter uns auf die Straße rollten. Ich wusste, dass ich jetzt eigentlich fieberhaft an einem neuen Plan arbeiten sollte, doch je länger wir fuhren, desto mehr machte sich die Erschöpfung in mir bemerkbar. Seit ich das letzte mal geschlafen hatte waren weit über vierundzwanzig Stunden vergangen und auch das unfreiwillige Nickerchen auf dem Weg hierher war alles andere als entspannend gewesen. Vom monotonen Geräusch des Motors gemischt mit den Reifen auf der Straße eingelullt schloss ich die Augen und ließ den Kopf gegen das Fenster sinken.Lucas war in Sicherheit. Das war alles, was gerade zählte.

Irgendwann entfernten sich die Geräusche, wurden dumpfer, bis ich schließlich endgültig wegnickte. Mein Schlaf war unruhigt, geplagt von Albträumen und Erinnerungen. Als ich aufwachte, war es draußen hell. Wir fuhren noch immer, auf einer Autobahn oder Schnellstraße, ich konnte die Schilder durch das abgedunkelte Fenster hinten nicht erkennen. Navarro hatte das Radio eingeschaltet.

Müde beugte ich mich zur Seite und sah durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Straße war eben, ohne Risse oder Schlaglöcher. Waren wir über eine Landesgrenze gekommen, während ich geschlafen hatte?

Ich räusperte mich, um Navarro zu signalisieren, dass ich wach war.Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.

"Alles in Ordnung?", fragte er.

"Mhhh", brummte ich müde. Eine Weile sagte keiner von uns beiden etwas. Ich drehte mich um. Der Wagen von vorhin folgte uns noch immer.

"Wo bringst du mich hin?", fragte ich.

"Sollen wir an der nächsten Tankstelle anhalten und dir etwas zum Frühstück besorgen?", fragte Navarro anstelle einer Antwort.

"Wohin fahren wir?", fragte ich noch einmal.

Navarro seufzte. "Wir fahren in Richtung Norden. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Aber es wird dir gefallen."

Auch wenn ich es nicht eingefordert hatte, hielten wir wie versprochen ein paar Minuten später an der Tankstelle an. Ich hatte erwartet, Navarro würde mich im Auto einschließen, während er tankte und mir etwas zu Essen kaufte, doch er stieg aus, ging ums Auto herum und öffnete meine Tür.

"Vertrete dir ein wenig die Beine, bevor wir auf die Fähre gehen."

Fähre? Wie weit wollten wir denn noch fahren? Bis wir am Nordpol angelangt waren? In meinem Kopf setzten sich die Worte "Norden" und "Fähre" zu einem Bild zusammen. Norden. Schleswig-Holstein hatten wir inzwischen wahrscheinlich schon verlassen. Dafür waren wir zu lange gefahren. Das heißt, wir waren irgendwo in Dänemark, vielleichtt auch Schweden. Fähre. Wohin fuhren von dort aus denn Fähren? 

Ich löste meinen Anschnallgurt. "Ich könnte wegrennen", sagte ich mistrauisch.

Navarro lachte. "Wohin?"

Ich stieg aus und folgte ihm in den Laden. Er hatte recht. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, geschweige denn, wie ich hier eine Polizeistation finden sollte. Außerdem wussten wir beide nur zu gut, dass Lucas nur so lange sicher sein würde, wie ich mein Versprechen einhielt. Wie schnell Navarro einen finden konnte, wenn er wollte, hatten wir in den letzten Tagen ja selber erlebt.

Im Kühlregal suchte ich mir eine Packung geschnittener Früchte, einen Kakao und ein belegtes Käsebrot aus. Zumindest hoffte ich, dass es das war, ohne die Beschriftungen entziffern zu können. Hätte ich mich mal darum gekümmert, mehr als nur Englisch zu lernen, wüsste ich jetzt wenigstens, in welchem Land ich war. Doch nun wusste ich lediglich, dass wir weder in Deutschland, noch in England waren.

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt