Ich rutschte zurück. Konnte es sein, dass Lucas in der Zwischenwelt aufgehalten worden war? Mir fiel sonst kein Grund ein, warum er noch immer nicht zurückgekehrt war. Oder hatte ich letztes Mal auch so lange gebraucht?
Ich musterte sein fahles Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht entspannt. Ein Teil von mir war ein wenig angewidert von der blass-gräulichen Farbe seines Gesichtes und dem Blut, das noch immer von seinen Ohren tropfte. Doch so zerschunden, wie sein Körper war, ein Teil von mir konnte nicht anders als zu bemerken, wie schön es war, Lucas einmal wahrhaftig entspannt zu sehen. Die Sorgenfalte zwischen seinen Brauen, die in den letzten Tagen stätig gewachsen war, war verschwunden.
Doch die Minuten vergingen, ohne dass sich an seinem Zustand irgendetwas änderte. Langsam wurde ich wirklich ungeduldig. Wenn wir uns nicht beeilten, würden wir der Polizei einiges zu erklären haben.
Ich drehte das Schwert in meinen Händen und betrachtete es nachdenklich. Dann griff ich nach meiner Pistole und schloss die Augen.
...
Als ich in Etenia aufwachte, war es nicht Erlo, der mich begrüßte. Es war auch nicht Wilma. Der Betreuer, der mir von der Liege half, hatte ich noch nie gesehen. Als ich ich von der aufsteigenden Übelkeit erholt hatte, ließ ich ihn kommentarlos im Aufwachbereich stehen und machte mich auf den Weg in Erlos Büro. Er war immerhin noch mein Betreuer und wenn mir jemand sagen konnte, was hier los war, dann er.
Doch als ich ohne zu klopfen die Tür aufriss, war Erlo nicht alleine. Auf dem Holzstuhl gegenüber von seinem Schreibtisch saß jemand. Ein Mann, mit dünnem, weißen Haar und ungepflegt aussehendem Vollbart. Skeptisch sah ich zwischen den beiden hin und her.
"Arin?", fragte Erlo überrascht. "Was machst du hier?"
"Wo ist Lucas?", fragte ich statt einer Erklärung.
"Woher soll ich das wissen?"
"Du weißt alles."
Erlo seufzte und tippte etwas in seine Tastatur ein.
"Lucas ist- bei Owena- ne- nicht mehr. Auf dem Weg-"
Er machte eine Kurze Pause und sah konzentriert auf den Bildschirm.
"Zu Owena?" Er zuckte mit den Schultern. "Kommt gleich bei uns vorbei. Kannst du jetzt bitte gehen? Wir sind gerade mitten im Erstgespräch." Er deutete auf den alten Mann vor ihm.
Ich drehte mich um.
"Ich freu mich auch, dich zu sehen", rief ich noch zurück, dann ließ ich die Tür hinter mir zufallen. Wie von Erlo vorausgesagt bog in genau diesem Moment Lucas um die Ecke. In seinem Arm hielt er einen Stapel Zettel. Auch er weitete überrascht die Augen, als er mich sah.
"Da bist du ja", begrüßte ich ihn. "Wo warst du die ganze Zeit?"
"Ich war- ähhh- bei Owena", antwortete Lucas, während wir den Gang hinunter in Richtung des Tores liefen.
"Was hast du bitte bei Owena gemacht? Und was ist das?" Ich deutete auf die Zettel in seinem Arm.
"Ein Plan", antwortete Lucas nur knapp.
"Wie wir aus dem Drecksding da rauskommen?"
Lucas nickte. "Raumplan und so."
"Na dann. Ich höre", sagte ich und wollte Lucas den Stapel abnehmen. Doch der drehte sich weg.
"Wir haben jetzt keine Zeit dafür. Überlass das einfach mir."
Ich sah skeptisch auf den Papierstapel, den Lucas an seine Brust gepresst hielt, nickte dann aber.
Dieses Mal zögerten wir nicht, als wir das Tor erreichten. Wir liefen einfach in die Leere hinein, als wäre sie nichts anderes als ein weiterer Gang.
...
Ich blinzelte. Es war still. Lucas lag noch immer neben mir. Ich setzte mich auf, schüttelte mich und wartete. Mit jeder Minute, die ich länger sein Gesicht anstarrte, schien ein wenig mehr Farbe in sein Gesicht zurückzukehren. Vielleicht bildete ich das auch nur ein, doch auch das Blut, das aus seiner Stirn gesickert war, wurde weniger. Die Stelle, an der er verletzt wurde, konnte ich aus meiner Position nicht sehen, doch als ich ein paar Minuten später sein Oberteil hochhob, war das Schussloch kaum mehr als ein blutiger Fleck.
Langsam öffnete Lucas seine Augen. Seine Augen wanderten durch den Raum, dann fanden sie mich. Ich rutschte zu ihm.
"Alles gut?" fragte ich.
Er nickte, noch immer ein wenig benommen.
"Besser als letztes Mal, aber- ich fühl mich so, als wäre ich vom Bus überfahren worden."
Ich lächelte verlegen, bei dem Gedanken daran, was vorhin auf der Treppe passiert war. Doch Lucas war viel zu beschäftigt damit, mit vor Schmerzen zusammengekniffenen Augen seinen Oberkörper abzutasten, um etwas zu bemerken.
Mein Blick fiel auf seine Lippen. Sie waren der einzige Teil seines Gesichtes, der nicht blutverschmiert war. Mit einem Finger fuhr ich seicht über seine Wange. Das getrocknete Blut fühlte sich rau an, doch die Haut darunter war warm. Mein Kopf senkte sich, die Augen noch immer auf seinen Lippen.
Plötzlichen ertönten durch die leicht geöffnete Tür Schritte. Ich schreckte hoch.
"Beeilen wir uns", sagte ich leise, griff das Schwert und stand auf. Die ersten paar Schritte musste ich Lucas stützen, doch als wir oben an der Treppe angekommen waren, war er schon wieder fast der Alte. Hochkonzentriert lief er los, mich im Schlepptau.
Auf den Gängen war keiner zu sehen, auch als wir den Eingang erreicht hatten trafen wir niemanden. Kein Max, keine Museumsbesucher, keine Polizei. Das Museum war wie ausgestorben. Doch wir verschwendeten keinen Gedanken daran sondern überquerten schnellen Schrittes die Straße. Dann bogen wir nach rechts ab und liefen durch eine schmale Gasse in Richtung Innenstadt. Aus der Ferne ertönten Polizeisirenen.
"Halt", sagte ich und blieb stehen. Lucas drehte sich um und sah mich fragend an.
"So wie du aussiehst, schaffen wir es niemals unbemerkt ins Hotel rein."
Ich deutete auf das Schwert in meiner Hand.
"Damit auch nicht."
Lucas nickte langsam und sah zwischen meinem Gesicht und dem Schwert hin und her. Dann streckte er die Hand aus.
"Gib mir das und geh vor."
Ohne mir zu erklären was genau er vorhatte trat er vor mich und steckte seine Hand in meine Jackentasche. Als er sie wieder rauszog, hielt er einige Geldscheine in seiner Hand. Er steckte sie ein und nahm mir mit der anderen Hand das Schwert ab. Mit einem Kopfnicken gab er mir zu verstehen, dass ich gehen sollte.
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Etenia
AdventureArin ist gerade einmal 19, als ihr Leben ein plötzliches Ende findet. Sie erwacht an einem wundersamen Ort, ohne Erinnerung an ihren Tod. Gemeinsam mit anderen kürzlich Verstorbenen soll sie nun ihren Tod verarbeiten und sich von ihrem Verlangen nac...