Den Zettel von Erlo in der Tasche und das Schwert unter dem Mantel verborgen bahnte ich mir meinen Weg durch den Feierabendverkehr. Die Bahn war so brechend voll, dass ich jeden Moment Angst hatte, jemand würde gegen das Schwert stoßen, doch ich hatte Glück.
Als ich bei meiner Haltestelle ausgestiegen war und mich langsam der Adresse näherte, dämmerte es mir. Hier war ich schon einmal gewesen, gemeinsam mit Lucas.
Es dauerte eine Weile, bis sich auf mein Klingeln etwas hinter der Tür tat. Kurz polterte es dumpf, als hätte jemand einen Stuhl umgestoßen, dann öffnete sich die Tür.
"Du?", entfuhr es Max ungläubig. Statt etwas zu sagen schob ich mich ich an ihm vorbei in die Wohnung.
Das gesamte Wohnzimmer war ein reines Chaos. Das war es zwar schon bei ihrem letzten Besuch gewesen, doch das hier war noch einmal etwas ganz anderes. Überall lagen Zettel auf dem Boden, Pizzakartons und leere Flaschen. Mitten im Chaos stand er. Lucas. Den Rücken zu mir stand er an der Wand und kritzelte etwas auf das große Stück Papier, das mit Klebeband dort befestigt worden war.
"Wer war das?", fragte er, ohne sich umzudrehen.
"Manche Menschen sind so dämlich, dass es fast schon wehtut", sagte ich kopfschüttelnd. Wie hatte er zu Max zurückgehen können, nachdem er uns das Schwert geklaut und Lucas erschossen hatte?
Nun drehte Lucas sich doch um. "Arin", entfuhr es ihm, seine Augen vor Schock und Überraschung geweitet. Sein Blick fiel auf das Schwert in meiner Hand. Auf dem Weg zum Wohnzimmer hatte ich es unter meinem Mantel hervor geholt und hielt es nun mit der spitzen Seite nach unten vor mir.
"Was- wie-", begann er, stockte aber. Dann bahnte er sich einen Weg über die Müllhalde auf dem Boden und zog mich in eine feste Umarmung. "Du bist nicht wütend?", fragte ich unsicher. "Ich bin mehr als nur das, glaub mir", antwortete er. "Aber das können wir später klären. Erstmal gibt es deutlich wichtigeres. Wie zum Henker bist du an das Schwert rangekommen?"
"Lange Geschichte. Was soll das alles hier werden?" Hinter Lucas an der Wand hingen Karten, Fotos und Zeitungsartikel, gemischt mit gelben Post-Its und abgerissenen Buchseiten. Es sah ein wenig so aus wie das schwarze Brett aus Detektivfilmen, nur das hier kein roter Faden zwischen all den Elementen gespannt war.
"Recherche. Navarro hat mich drauf gebracht. Ich hatte so einiges an Zeit um nachzudenken in den letzten Wochen", erklärte Lucas. Was genau er herausgefunden hatte, erzählte er mir aber nicht.
"Pass auf", sagte ich und ließ das Schwert aufs Sofa fallen. Sofort rutschte es unter die Pizzakartons.
"Wir haben maximal eine Woche, bis Navarro hier auftaucht. Das ist unsere letzte Chance. Ein letzter Plan. Ein letzter Versuch. Dieses Mal muss es funktionieren."
Die nächsten Stunden verbrachten Lucas und ich damit, uns in Kurzfassung gegenseitig von den letzten Wochen zu berichten, alles aufzuzählen, was vielleicht noch wichtig werden konnte. Ich erzählte Lucas von meiner Zeit mit Navarro und Viktor in der Hütte, Lucas erklärte mir im Gegenzug seine Recherchewand.
Max war derweil viel zu überfordert damit, mich und Lucas beide lebend in seiner Wohnung zu sehen, dass er sich in der Küche verkroch und uns in Ruhe ließ. Das war mir nur recht. Nach den Ereignissen im Museum hatte ich ehrlicherweise keine Lust mehr, mich mit ihm zu unterhalten. Ein wenig verstand ich aber langsam, warum Lucas zu ihm gegangen war. Nach allem, was Max wusste, könnte Lucas ihn jederzeit wegen versuchten Mordes anzeigen. So lange das passierte, konnte Lucas tun, was er wollte, ohne irgendetwas befürchten zu müssen.
Als wir fertig waren, drehte Lucas sich zu mir um und trat zu mir, bis er direkt vor mir stand. Seine Augen funkelten. Instinktiv lenkte ich meinen Blick über seine Schulter und betrachtete die vollgeklebte Wand.
"Weißt du, woran ich all die Zeit hier noch gedacht habe?", fragte er leise.
"Woran?", fragte ich, meine Stimme selber kaum mehr als ein Hauch. Lucas war mir inzwischen so nah, dass ich die Wärme spürte, die von ihm ausging."Ich hab mich gefragt, ob du mich noch einmal das hier tun lässt", sagte er.
Fragend sah ich ihn an, da legte sich auch schon eine Hand um meine Hüfte und zog mich zu ihm. Kurz hielt Lucas inne, als warte er darauf, dass ich mich wegdrehen würde oder etwas sagen würde, doch ich tat nichts davon. Mit stockendem Atem sah ich ihn an, während seine andere Hand über meinen Rücken bis hoch zum Nacken strich. Mit jeder Sekunde, die verging, schlug mein Herz schneller. Es war schon fast dabei, mir aus der Brust zu springen, als Lucas sich vorbeugte und sich seine Lippen auf meine legten.
Es war kein leidenschaftlicher Kuss, keiner, bei dem einem die Schmetterlinge durch den Bauch schwirrten, und doch spürte ich mit jeder Faser meines Körpers, wie viel er bedeutete. In diesem Kuss lag all die Trauer und all der Schmerz, die wir zusammen erlebt hatten und doch war er voller Hoffnung und Vergebung.
Als wir uns schließlich voneinander lösten, atmete auch Lucas schwer.
"Es tut mir leid", sprach ich das erste aus, das mir in den Kopf schoss. Doch Lucas legte seinen Daumen über meine Lippen und hinderte mich damit am Sprechen.
"Ich hab das hier nicht getan, um von dir eine Entschuldigung zu bekommen", sagte er. "Du bist mir keine schuldig. Wenn es anders herum gewesen wäre, hätte ich das selbe getan. Auch wenn ich ein wenig gebraucht habe, bis mir das klargeworden ist." Er lächelte sanft. "Keine Geheimnisse mehr?"
Ich konnte weder etwas sagen noch den Kopf nicken, doch mein Blick sagte mehr als genug. Lucas und ich konnten die Mission nur zusammen beenden. Was auch immer geschehen war, wir schuldeten es einander, nicht aufzugeben, bevor wir nicht alles in unserer Macht stehende getan hatten, um unsere zweite Chance zu erhalten. Wenn nicht uns, dann unseren Familien.
"Also was jetzt?", fragte ich. "Mit Navarro im Nacken und Owena auf der anderen Seite, wie geht es jetzt weiter?"
Lucas trat zurück zur Wand und deutete mit einem Stift auf verschiedene Punkte. "Egal welchen Weg ich in meiner Recherche eingeschlagen bin, sie alle führen zum selben Ort. Wenn wir etwas über seine Vergangenheit rausfinden können, was uns weiterhilft, dann da."
Stirnrunzelnd sah ich auf das Bild, auf das Lucas Stift zeigte. "Ein Friedhof?"
"Nicht irgendein Friedhof", antwortete Lucas. "Wenn wir Glück haben und ich richtig liege ist es genau der Friedhof. Der Friedhof, auf dem Navarros Racheakt begonnen hat."
"Okay, also fahren wir da morgen hin?"
Lucas sah auf die Uhr. "Wir fahren da genau jetzt hin."
Bevor Max sich also umentscheiden konnte und seine halbstarken Kumpels auf uns hetzen oder sonstwas dummes tun konnte, griff Lucas seinen Autoschlüssel von der Fensterbank und öffnete die Haustür.
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Etenia
AdventureArin ist gerade einmal 19, als ihr Leben ein plötzliches Ende findet. Sie erwacht an einem wundersamen Ort, ohne Erinnerung an ihren Tod. Gemeinsam mit anderen kürzlich Verstorbenen soll sie nun ihren Tod verarbeiten und sich von ihrem Verlangen nac...