Kapitel 28

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"Liebe Familie, liebe Freunde. Der Tag ist gekommen, an dem wir uns von unserem kleinen Engel verabschieden müssen. So sehr, wie es mich schmerzt, dass dieser Tag passieren musste, so dankbar bin ich, dass ihr alle hier erschienen seid, um Arin die letzte Ehre zu erweisen."

"Hat sie mich gerade wirklich Engel genannt?", flüsterte ich. "Ihhh."

"Psst", flüsterte Lucas zurück. "Ich will das hören."                         

"Arin war immer ein wahnsinnig lebensfrohes Mädchen, so voller Energie und Wissensgier. Schon als Kind war sie das. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem sie ihre ersten Schritte gemacht hat, ihr erstes Wort gesagt hat oder ihr erstes geschrieben hat. Sie hat immer so gestrahlt. Arin wollte immer mehr lernen, besser werden, noch mehr Fragen stellen. Auch wenn sie ihren Vater damit fast in den Wahnsinn getrieben hat, sie hat nie aufgegeben, bis sie die Antwort zu all ihren Fragen hatte."

Meine Mutter hielt kurz inne, um sich mit dem Taschentuch über die Wangen zu tupfen. Dabei konnte ich gar keine Tränen erkennen.

 "Ihr ganzes Leben war ich die Person, die ihr am nächsten stand. Die Person, die sie mehr geliebt hat, als jeder andere. Ihr größter Fan könnte man sagen. Sie hat so viel von mir geerbt, dass ich manchmal das Gefühl hatte, in den Spiegel zu gucken, wenn ich Arin angesehen habe."

Wieder hielt sie kurz inne, um sich eine imaginäre Träne von der Wange zu tupfen.

"Natürlich habe ich mir lange Vorwürfe gemacht, mich lange gefragt, warum gerade mein Kind mich verlassen musste, warum es nicht einfach eine andere Familie treffen konnte. Aber Arin hatte eben immer ihren eigenen Kopf. Auch wenn sie damit häufig gegen die Wand gerannt ist, am Ende hat sie immer bekommen, was sie wollte, selbst wenn es das Geschichtsstudium war oder die Freiheit, nachts mit ihren Freunden durch die Stadt zu ziehen. Ich hätte sie nicht zurückhalten können, selbst wenn ich es noch so sehr versucht hätte." Sie lächelte traurig.

"Ich bin noch immer auf der Suche nach dem roten Faden in dieser Rede", flüsterte ich. "Oder dem Punkt, wo es um mich geht und nicht um sie."

"Hmmm", machte Lucas nur, doch seine Aufmerksamkeit schien ganz woanders zu sein. Konzentriert sah er zwischen meiner Mutter und der Menge hin und her.

"Arin war nie gut mit Nähe", fuhr meine Mutter fort. "Bei Benny war das manchmal anders, aber mich oder Peter hat sie nie umarmen wollen. Auch wenn wir sie am liebsten ganz fest gedrückt hätten, hat sie immer abgeblockt. Vielleicht war das auch nur eine Phase, wie alle Teenager sie in dem Alter durchlaufen, aber bei Arin war das nie anders. Sie war so, seit sie klein war. Aber am letzten Abend, bevor sie verschwunden ist, ist sie zu mir gekommen und hat mich umarmt. Einfach so. Ich weiß bis heute nicht, was an dem Tag anders gewesen ist, aber ich würde alles geben, um noch ein letztes Mal ein 'hab dich lieb Mama' ins Ohr geflüstert zu bekommen."

Die Wahrheit war, dass ich mich am letzten Abend vor meinem Verschwinden wieder einmal mit meiner Mutter gestritten hatte. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, weswegen wir gestritten hatten, doch umarmt hatte ich sie bestimmt nicht und ihr ins Ohr geflüstert, wie sehr ich sie doch liebte, hatte ich noch weniger. Aber das war vermutlich nichts, was man gerne bei einer Trauerfeier erwähnte.

"Ich kann mich noch an einen Tag vor vielen Jahren erinnern, vielleicht war Arin da zehn oder elf, da ist sie freudestrahlend aus der Schule gekommen, weil sie vor der gesamten Klasse erzählt hatte, was für eine berühmte Mutter sie hat. Ihre Klassenlehrerin hatte durch Zufall von mir gehört, deswegen hat sie ihr all diese Fragen über mein Label gestellt. Und dann hat Arin einen Zettel rausgeholt, auf dem ihre Lehrerin mich gebeten hat, in die Schule zu kommen und eine Präsentation über meine Arbeit zu halten. Mein kleines Mädchen war so verdammt stolz auf ihre Mutter."

"Was ist das? Eine Trauerrede oder Werbung?", fragte Lucas leise und schüttelte den Kopf.

"Woher hat sie das alles überhaupt? Das ist nie passiert", schnaubte ich.

Lucas schob seinen inzwischen leeren Teller von sich. "Eins muss man deiner Mutter lassen. Die Schauspielerei liegt ihr im Blut."

Ich verdrehte die Augen. "Ja, ernsthaft. Selbst ich bin kurz davor zu heulen."

Schlecht gelaunt schob ich meinen Teller auf den von Lucas. Der Appetit war mir bei dieser Darbietung deutlich vergangen. Doch die Hoffnung, dass mein Vater oder Ben vielleicht noch ein paar Worte sagen würden, zersprang in tausend Teile, als meine Mutter eine blonde Frau in schwarzer Robe auf die Bühne winkte. Ich kniff die Augen zusammen, um das Gesicht besser sehen zu können, doch ich erkannte die Frau beim besten Willen nicht.

"Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Trauernde. Ich werde mit euch eine kleine Zeitreise durch das Leben von Arin machen, eine Reise durch die Vergangenheit, um uns gemeinsam noch ein letztes Mal zu erinnern, bevor wie Arin weiter ziehen lassen."

"Ar-i-n, nicht A-rin. Die Betonung liegt auf dem i nicht auf dem a", flüsterte ich wütend. Die Frau sprach so langsam und monoton, dass ich allein von ihrer Stimme schon Aggressionen bekam. Es klang, als würde sie uns auf eine spirituelle Reise begleiten, nachdem sie sich 'bewusstseinsweiternde' Substanzen eingeflößt hatte. Ja, sie klang so, als wäre sie auf Drogen. Auf jeden Fall nicht wie eine Trauerrede. Von der restlichen Erscheinung dieser Frau wollte ich gar nicht erst anfangen. 

"Wie kann man seinen Job so vermasseln?", fragte ich nach einigen Minuten, als die blonde Frau anfing, ausführliche Geschichten über meine Kindheit zu erzählen, an die selbst ich mich nicht mehr erinnern konnte. Je länger die Tortur einer Rede andauerte, desto mehr fragte ich mich, warum meine Mutter diese Rede nicht selber hielt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie den Platz auf der Bühne freiwillig weitergegeben hatte.

Vielleicht hatte mein Vater ja darauf bestanden, einen professionellen Redner einzustellen. Es würde gut zu ihm passen, bei der Gelegenheit gleich für ein wenig Chaos zu sorgen. Vielleicht hatte er gewusst, dass es mir gefallen hätte. Naja, gefiel. Nur dass er davon ja keine Ahnung hatte. Ich sah zu ihm. Ben hatte sich mit dem Kopf an ihn gelehnt und die Augen geschlossen. Von hier oben war es schwer zu erkennen, doch ich hätte schwören können, dass mein Vater lächelte.

Meine Augen suchten nach meiner Mutter, doch sie stand nicht mehr neben der Bühne. Sie saß auch nicht auf ihrem Platz. Mein Blick wanderte weiter durch die Menge. Vielleicht hatte sie sich ja zu ihren Eltern gesetzt, oder hatte die Rede nicht mehr ertragen können und war gegangen. Doch gerade, als ich diesen Gedanken zuende gedacht hatte, fiel mein Blick auf etwas, was mich erstarren ließ. Jemanden.

"Lass uns gehen", flüsterte ich Lucas zu. "Ich kann mir das nicht länger anhören."

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt