Etenia

Kapitel 6

Wie Erlo vermutet hatte, war ich die Letzte.

„Arin, perfekt. Schön, dass du da bist", begrüßte Wilma mich. Sie stand in der Mitte des Raumes und winkte mich zu ihr. Um sie herum war ein Stuhlkreis aufgebaut. Alle anderen Teilnehmer hatten schon einen Platz gefunden, nur hinter Wilma war noch einer frei. Ich ließ meinen Blick über die gut zwanzig Gesichter schweifen, senkte aber schnell den Kopf, als ich bemerkte, dass einige von ihnen mich neugierig anstarrten. Schnell ging ich an Wilma vorbei zum freien Platz. Erschrocken stellte ich fest, dass Lucas nicht weit davon entfernt saß. Gerade unterhielt er sich mit seinem Sitznachbarn und schien mir keine Beachtung zu schenken, doch als ich meinen Platz erreicht hatte, sah er doch hoch.

Sofort sah ich weg, um den beißenden Schmerz von gestern nicht noch einmal durchleben zu müssen, doch dieses Mal blieb er aus. Ich setzte mich, vermied es jedoch weiterhin, ihn anzusehen. Am liebsten wäre ich einfach weggerannt, hätte mich wie gestern in meinem Zimmer verschanzt und es nie wieder verlassen. Aber diesen Sieg konnte ich ihm nicht geben. Ich musste zeigen, dass er keine Macht mehr über mich hatte. Also blieb ich sitzen, mit klopfendem Herzen und Beinen, bei denen ich mir nicht sicher war, ob sie mich noch halten würden, wenn ich jetzt aufstand.

Mit einem freundlichen Lächeln sah Wilma in die Runde. „Schön, dass wir jetzt vollzählig sind. Ich schlage vor, wir starten mit einer kleinen Vorstellungsrunde, dann werde ich euch den Ablauf der nächsten Nachmittage näher bringen." Sie nickte dem blonden Mädchen links neben sich zu. „Fang du an. Wir gehen der Reihe nach durch und jeder nennt seinen Namen, sein Alter und wenn er oder sie sich traut den Grund, warum ihr hier seid. Details könnt ihr uns gerne ersparen, wir werden dafür später noch genug Zeit haben."

Das Mädchen rollte mit den Augen. „Mein Name ist Colette. Ich bin zwanzig. Ich bin hier, weil irgendein Arsch mir etwas in den Drink gekippt hat." Die Wut in Colettes Stimme war nicht zu überhören. „Wenn ich könnte, würde ich höchstpersönlich wieder zurückgehen und den Typen erwürgen, aber das geht in diesem Loch ja anscheinend nicht."

"Danke Colette. Nächster", unterbrach Wilma sie.

Neben Colette saß Pascal, ein muskulöser Typ mit langen, strohig-braunen Haaren, der bei einer Schlägerei zwischen die Fronten gekommen war. Bevor die Polizei kommen und die Streithähne auseinanderbringen konnte, hatte auch schon einer eine Waffe gezogen und Pascal war in der Zwischenwelt aufgewacht. Anna, ein fünfzähnjähriges Mädchen aus Lübeck, war bei einem Hausbrand gestorben, den auch ihre Familie nicht überlebt hatte, Christoph, angehender Koch, an einer versehentlichen Überdosis und Sofia aus Bremen bei einem Skiunfall.

Und so ging es weiter. Die Geschichten der Teilnehmer gingen von dummen Unfällen bis hin zu den grausamsten Geschichten, bei denen jeder Einzelne in der Runde das Gesicht verzog, doch sie alle hatten etwas gemeinsam: Jeder einzelne aus der Runde hatte sein Leben verloren, noch bevor er überhaupt die Chance bekommen hatte, richtig zu leben. Sie alle hatten eine Zukunft gehabt.

Ein rothaariges Mädchen, Emily, gerade achtzehn geworden, erzählte der Gruppe, wie sie ihren Freund beim Fremdgehen erwischt hatte. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er auf Partys mit anderen Mädchen rumgeknutscht hatte. Seit er mit der Schule fertig war, hatte er so etwas immer öfter abgezogen, aber irgendwie hatte sie ihm am Ende doch immer verziehen. Er liebte sie schließlich und hatte sich auch immer mit Blumen, Geschenken und großen Gesten bei ihr entschuldigt und es wieder gut gemacht. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal wollte sie endgültig Schluss machen. Im Wohnzimmer seiner Eltern hatte sie ihn schließlich zur Rede gestellt, ihm die Beweisfotos ihrer Freunde gezeigt. Zuerst hatte er alles abgestrittet, sie als Lügnerin beschimpft, ihre Freunde als hinterhältige Schlangen. Irgendwann war der Streit eskaliert und er war handgreiflich geworden.