Kapitel 35

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Die Wartezeit auf meiner Reise war unerträglich. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, hatte ich Angst, in Navarros blaue Augen zu starren, doch natürlich passierte das nicht. Alles, was ich tun konnte, war, aus dem Fenster zu schauen und zu warten.

Am Hamburger Hauptbahnhof angekommen kramte ich meine letzten paar Euro aus der Hosentasche und kaufte mir ein Franzbrötchen und eine große Flasche Sprudelwasser. Gierig schüttete ich das gekühlte Getränk in den Mund und stopfte das Franzbrötchen hinterher. 

Mit der Ubahn fuhr ich weiter. Diese Strecke war ich vor ein paar Monaten so gut wie täglich gefahren, trotzdem fühlte es sich merkwürdig an. Als ich endlich die Haltestelle erreichte und die Treppe zur Straße hochstieg, war es bereits dunkel. Im Licht der Straßenlaternen lief ich zu Fuß weiter.

Das Haus war dunkel. Nur oben, in Bens Zimmer, brannte noch Licht. Ich meinte, durch den Vorhang seinen Schatten erkennen zu können, doch vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Mein Blick wanderte zur Auffahrt. Das Auto meiner Mutter war nicht da, doch die rote Ente meines Vaters stand an ihrem üblichen Platz. Leise öffnete ich die kleine Pforte und trat auf den gepflasterten Weg zur Haustür. Meine Finger fuhren über die feine Gravur auf dem Klingelschild.

Wiedemann

Einen kurzen Augenblick, den Hauch einer Sekunde, wollte ich klingeln, wollte Etenia, Owena und Lucas einfach den Rücken zukehren. Was hatte es für einen Sinn, weiter für etwas zu kämpfen, das ohnehin unmöglich war? Lucas war sauer auf mich, Navarro lauerte mir im Nacken und jetzt war meine einzige Chance, geradezurücken, was ich verbockt hatte. Ein kurzes Zucken mit dem Finger und ich konnte Ben in die Arme schließen, mich tausend Mal bei ihm entschuldigen und ihm alles erklären.

Doch statt die Klingel zu betätigen, rutschte meine Hand kraftlos nach unten. Ich konnte es nicht.

Ich drehte mich um und ließ mich auf die Treppe fallen. Tränen liefen mir über die Wange. Was hatte ich ihn alles zugemutet? Die langen Nächte, weggedrückten Anrufe, schon weit vor meinem Tod hatte ich mich von der Familie entfernt. Und nun konnte ich es nie wieder gut machen. Ich ließ den Kopf auf die Knie fallen.

"Wiedemann?", sagte auf einmal eine bekannte Stimme. Ich schreckte hoch. Vor mir stand Erlo, seine Haare genauso zerzaust wie das erste Mal, an dem ich ihn gesehen hatte. Er grinste verschmitzt. Ich blinzelte ein paar Mal ungläubig, doch er war wirklich da, im selben weißen Anzug, den er immer in Etenia trug, dem Halstuch und dem silbernen Anstecker an der Brust.

Ohne lang darüber nachzudenken, zog ich mich hoch und warf mich in seine Arme. Sanft streichelte er mir über den Kopf, während ich leise in sein Halstuch schluchzte.

"Ich kann nicht mehr", sagte ich leise und sprach endlich das aus, was mich schon seit Wochen belastete . Das, was Owena von mir erwartete, war zu viel für mich. Ich konnte es einfach nicht.

"Hey, hey", versuchte Erlo mich zu beruhigen. "Alles ist gut."

Ich hob den Kopf. "Nichts ist gut."

Erlo seufzte und deutete auf das Licht in Bens Zimmer. "Ihm geht es gut, glaub mir. Aber jetzt zurückzugehen, wäre ein großer Fehler. Einmal um dich zu trauern ist schon schwer für sie, aber wenn du jetzt zurückgehst, werden sie dich noch einmal verlieren."

"Lucas und ich haben versagt. Navarro hat das Schwert, das Geheimnis, alles. Es ist vorbei."

"Dieser Versuch ist gescheitert, ja. Aber was meinst du, wie viele Dinge erst beim zweiten oder dritten Versuch funktionieren? Du kannst doch nicht gleich aufgeben, nur weil du auf Widerstand triffst."

"Was soll ich alleine denn noch groß anrichten?", fragte ich verzweifelt.

"Pass auf. Gehen wir ein wenig. Ich denke, mit ein wenig Abstand wird es dir ein wenig leichter fallen."

Während wir an der Außenalster südlich liefen, sprach keiner von uns ein Wort. Langsam ging die Sonne auf und tauchte die Welt in ein warmes Orange. Auch die kühle Nachtluft wich dem frühen Sommermorgen. Gemischt mit dem Zwitschern der Vögel und den seichten Wellen neben uns konnte ich fast vergessen, dass es keine Hoffnung mehr gab.

Als wir die Binnenalster erreicht hatten, füllten sich die Straßen langsam mit Menschen. Erschöpft und hungrig von der langen Nacht wollte ich mir beim Bäcker einen Kaffee kaufen, doch Erlo bestand darauf, in eine der Alsterboote zu steigen und dort in Ruhe zu frühstücken. Ich war nicht besonders begeistert von der Idee, war aber zu müde, um ihn davon abzubringen, gerade, weil ich das fast schon kindliche Leuchten in seinen Augen nicht erlöschen wollte.

Also kaufte Erlo uns Tickets und wir kletterten an Bord. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und einige Touristen folgen uns, dann legte das Schiff ab. Erlo und ich wählten einen Tisch am Fenster, setzen uns und bestellten unser Frühstück. Mit schweren Lidern blickte ich auf die im Sonnenlicht funkelnden Wellen.

"Ich muss zugeben, das ist mein erster Außeneinsatz seit über dreihundert Jahren", bracht Erlo die Stille. "Du glaubst gar nicht, wie sehr die Welt sich seitdem verändet hat. Wie Tag und Nacht."

Ich nickte müde. "Ich weiß." Erst nachdem ich dies ausgesprochen hatte, realisierte ich, was Erlo eigentlich gerade von sich gegeben hatte.

"Außeneinsatz?", fragte ich.

"Na, irgendwo müssen all die Daten doch herkommen", antwortete Erlo, was meine Frage aber nur bedingt klärte.

"Wieso- warum hast du aufgehört?", fragte ich weiter.

"Dass ich selber aufgehört habe, habe ich nie gesagt."

Ich sah ihn verwirrt an.

"Naja, sagen wir, am Ende war es ein Regelbruch zu viel."

"Warte, aber dann- Lucas hat sich im Hotel immer so verfolgt gefühlt. Ich dachte, er ist einfach nur paranoid, Aber das waren wirklich-"

Erlo zuckte mit den Schultern. "Kann gut sein."

"Das erklärt dann auch die Tür und das Paket", murmelte ich leise. Doch der kleine Funke Euphorie, der bei dieser Enthüllung ans Licht gekommen war, wurde sofort wieder erdrückt, als ich daran dachte, warum wir eigentlich hier saßen.

"Aber das macht keinen Sinn", sagte ich. "Wenn Etenias Agenten, oder wie auch immer man sie nennen will, die ganze Zeit eh schon hier waren, warum hat Owena dann mich und Lucas geschickt? Sie muss doch geahnt haben, dass es genau so läuft wie jetzt. Nie im Leben können zwei Menschen alleine Navarro töten."

Erlo beugte sich nach vorne.

"Du bist ein schlaues Mädchen, Arin", sagte er. "Ich glaube fest daran, dass du von alleine darauf kommst. Und bis das der Fall ist, kann ich dir ja schonmal das geben."

Er zog ein kleines Stück Papier aus der Tasche und reichte es mir.

"Was ist das?", fragte ich.

"Das ist die Adresse, wo du deinen Partner finden wirst."

Ich ließ den Zettel auf den Tisch fallen.

"Er ist nicht mehr mein Partner", sagte ich. "Nicht, seit ich ihn hintergangen habe, das Schwert verloren und Navarro auf uns gehetzt habe. Nein, von mir hat Lucas erstmal genug."

"Ich bin mir sicher, er wird dir verzeihen, sagte Erlo zwinkernd, öffnete seinen Mantel und deutete stolz auf das Schwert, dass er mit einigen Bändern an die Innenseite geknotet hatte.

Ungläubig starrte ich ihn an. "Was- woher-", stammelte ich.

"Es war nicht einfach, glaub mir. Aber in mir steckt definitiv ein kleiner James Bond", sagte er stolz.

Ich schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. "Der Typ ist nichts gegen dich", murmelte ich.

Inzwischen hatte sich das Schiff wieder dem Steg genähert. Einige der Touristen waren schon aufgestanden und standen nun ungeduldig im Gang herum.

"Also?", fragte Erlo. 

Ich steckte den Zettel ein und nickte. "Ein Versuch ist es wert."




EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt