„Mordopfer?", fragte ich fassungslos. „Logsdar hat mich umgebracht?"
„Wie gesagt, ich-"
„Ist er denn geschnappt worden?"
Erlo verdrehte genervt die Augen.
„Keine Ahnung. Kann dir aber auch egal sein. Ändert für dich jetzt eh nichts mehr. So, weiter im Text. Du bist hier in Etenia, weil du deinen Tod entweder noch nicht akzeptiert hast oder dich rächen willst. Sei froh. Vor ein paar Jahrhunderten wärst du jetzt als Geist herumgeirrt, aber durch die Zwischenwelt ist ein anderer, besserer Weg geschaffen worden, um-"
Er gähnte wieder. Dieses Mal machte er sich nicht einmal die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten.
„Das heißt, jemand hier kümmert sich um ihn? Ruft irgendwer wenigstens die Polizei? Ich meine, wenn-"
„Rache ist nicht die Antwort, das hatten wir doch schon", unterbrach mich Erlo. Dann zuckte einer seiner Mundwinkel. "Obwohl der Gedanke, von hier aus die Polizei verständigen zu wollen, wirklich köstlich ist."
„Es geht ja auch nicht um Rache, es geht um Gerechtigkeit", erwiderte ich aufgebracht. "Wer weiß, wie viele Menschen Logsdar noch umbringt, bis er gefasst oder getötet wird. Vielleicht habe ich es nicht geschafft, aber ich kann doch nicht einfach dabei zusehen, wie er noch weitere Leben auslöscht, wenn ich etwas dagegen tun kann."
Es war, als sprudelten diese Worte einfach aus mir heraus, ohne, dass ich auch nur ansatzweise die Kontrolle darüber hatte. Ich wusste teilweise selber nicht, was ich da von mir gab. Das, was ich in diesem Moment über den Mann im Video wusste, beschränkte sich auf ein Gesicht, einen Namen und das unerklärliche Gefühl, dass er verdammt gefährlich war.
„Du kannst und wirst nichts dagegen tun", antwortete Erlo gelassen. In seinen Worten lag keinerlei Emotion. "Hier in Etenia sind wir der Ansicht, dass eine Therapie mit anderen rastlosen Geschöpfen viel besser ist, um euch von dem Gewicht der Rachelust befreien zu können als jahrzehntelanges, meist sogar jahrhundertelanges und in jedem Fall erfolgloses Herumgeirre. Hier könnt ihr gemeinsam über eure Erinnerungen reden, sie so in Ruhe verarbeiten und damit abschließen, bevor ihr weitergeht. Einen Weg zurück gibt es sowieso nicht mehr. Ihr tut also gut, euch nicht mehr zu quälen als nötig."
"Ihr könnt doch nicht ernsthaft erwarten, dass alle das einfach so hinnehmen!", rief ich und sprang auf. Es überraschte mich selber, wie energiegeladen ich auf einmal war. Noch vor wenigen Augenblicken hatte ich kaum einen klaren Gedanken fassen können und nun hielt es mich nicht einmal mehr auf meinem Platz.
Erlo zuckte nur mit den Schultern. „Manche brauchen länger als andere, aber am Ende können sie alle unbeschwert weitergehen. Setz dich."
„Warte, weitergehen?", fragte ich. "Heißt das-"
„Nein, ein Leben gibt es für euch nicht mehr. Das hast du hinter dir. Stell es dir einfach wie das richtige, endgültige Ende vor. Ohne deinen Rachewunsch wärst du gar nicht hergekommen, sondern direkt verschwunden, wie die meisten Menschen es tun. Siehst du, wir nehmen euch also nichts, sondern geben euch eine Chance, das Leben auf eine positive Art und Weise zu beenden."
Ich beschloss, dass es zu nichts führen würde, wenn ich versuchte weiter zu diskutieren, und ließ mich zurück auf den Stuhl fallen. Bis jetzt hatte Erlo keine einzige Gefühlsregung oder nur Anzeichen von Mitleid gezeigt. Er würde nicht nachgeben, egal was ich sagte.
„Darf ich wenigstens wissen, wie ich gestorben bin?" fragte ich kleinlaut.
„Wenn du mich dann in Ruhe lässt", sagte Erlo müde und tippte etwas in die Tastatur ein. "Hier. Die Todesursache ist ein Schuss in die Brust."
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Etenia
AdventureArin ist gerade einmal 19, als ihr Leben ein plötzliches Ende findet. Sie erwacht an einem wundersamen Ort, ohne Erinnerung an ihren Tod. Gemeinsam mit anderen kürzlich Verstorbenen soll sie nun ihren Tod verarbeiten und sich von ihrem Verlangen nac...