Kapitel 26

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In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu meiner Familie. Ich versuchte mir vorzustellen, was sie gerade wohl machten. Ich war jetzt schon Monate weg. Inzwischen hatten sie bestimmt schon längst ihren normalen Tagesrythmus aufgenommen, gingen zur Arbeit und zur Schule, zum Sport oder zu Papas Pokerabenden. 

In den letzten Tagen hatte ich mein altes Leben fast schon verdrängen können, war so darauf fokussiert gewesen, an das Schwert zu kommen, dass ich alles andere vergessen hatte. Wie in einer Blase hatte ich mich von Tag zu Tag bewegt, ohne auch nur ein mal nach hinten zu schauen.

Doch jetzt kehrte alles mit einer solchen Wucht zurück, dass ich nicht einmal mehr klar denken konnte. Zumindest nicht hier während ich neben Lucas lag. Ich öffnete die Augen. Im Hotelzimmer war es stockdunkel, nur das kleine Nachtlicht über der Steckdose war noch an.

So leise ich konnte stand ich auf und schlich aus dem Zimmer. Die Wanduhr über dem Fahrstuhl zeigte halb drei. Barfuß lief ich über den Teppich. Ich wusste noch nicht einmal wohin ich wollte, ich ließ mich einfach von meinen Füßen tragen. So wie ich aussah, ohne Schuhe und mit nicht einmal einem Bademantel über, traute ich mich nicht in die Lobby, daher lief ich nach oben, Treppe für Treppe, bis ich im letzten Stockwerk angelangt war.

Auch hier war es menschenleer. Die Zimmertüren waren geschlossen, dahinter kein Geräusch zu hören. Ich schlenderte am Fahrstuhl entlang bis ich eine kleine Sitzecke erreichte. Dort ließ ich mich auf einen der schwarzen Ledersessel fallen und atmete durch. Mein Körper war von all dem Stress der letzten Tage so erledigt, dass Schlaf mein geringstes Problem sein müsste. Ich fühlte mich, als würde ich sofort in einen tiefen Schlaf fallen, wenn ich auch nur die Augen schloss. Doch das tat ich nicht. Zu wirr waren meine Gedanken, zu laut schrie meine innere Stimme.

Vor allem eine Frage brüllte sie durch mein Bewusstsein, bis ich kaum noch ein anderes Wort verstehen konnte. Hätte ich das Verhältnis zu meiner Familie retten können, wenn ich Navarro nie getroffen hätte? Es war die Frage, die mich seit meinem Tod am meisten schmerzte. Wie Lucas wollte ich die Verantwortung von mir schieben, Navarro für alles die Schuld geben. Doch er war nicht der Grund gewesen, warum ich meine Familie verlassen hatte. Im Gegenteil. Er hatte mich sogar dazu gebracht zurückzukehren, mich davon überzeugt ihnen eine zweite Chance zu geben.

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es war, als meine Familie noch heil gewesen war. Wie es gewesen war bevor ich mich mit meiner Mutter so sehr gestritten hatte, dass ich meine Sachen gepackt und weggelaufen war. Es waren ferne, bruchstückartige Erinnerungen, zu weit weg um sie richtig greifen zu können. Mein Vater, der uns zu meinem Geburtstag zum Eisessen einlud und mit uns durch den Park jagte. Ben und ich, wie wir im Garten Fußball spielten. Selbst mit meiner Mutter hatte es eine Zeit gegeben, in der wir uns verstanden hatten. Als ich kleiner war hatte sie mir versucht das Nähen beizubringen. Aus ihrer Studienzeit hatte sie eine alte Nähmaschine auf dem Dachboden gefunden, die sie mir dafür geschenkt hatte. Ich war kläglich gescheitert und hatte nach ein paar Wochen aufgegeben und doch hatte ich die Zeit mit ihr genossen.

Ich konnte noch nicht einmal einen Tag nennen, an dem es sich geändert hatte. Es gab keinen Tag, an dem ich aufgewacht war und beschlossen hatte meine Familie zu verlassen. Wir hatten auch keinen großen Streit gehabt, bei dem wir uns Unaussprechliches an den Kopf geworfen hatten. Wir hatten ständig gestritten. Wenn ich nach einer Party nicht nach Hause gekommen war, wenn ich vergessen hatte Ben von der Schule abzuholen oder wenn ich ihnen einfach mal wieder nicht genug war. Jahr für Jahr hatte ich mich langsam von ihnen entfernt bis es irgendwann zu spät gewesen war. Ich hatte immer öfter Nächte auf Partys und Tage bei Freunden verbracht, hatte schließlich ganz aufgehört meiner Familie zu erzählen wo ich war.

Colettes Gesicht tauchte vor meinem Inneren auf. Mir wurde schwer ums Herz. War es ihr ähnlich ergangen? Hatte sie sich auch von ihren Eltern abgewandt bevor sie getötet worden war? Ich versuchte mir ihre Familie vorzustellen, wie sie gelebt hatte. Ich meinte mich daran zu erinnern, dass sie aus einer wohlhabenden Familie kam. Am letzten Abend hatte sie mir die Adresse aufgeschrieben. Ich könnte sie einfach im Internet suchen wenn ich wollte. Bestimmt gab es irgendwo öffentlich zugängliche Computer, auf denen ich sie oder ihre Eltern suchen konnte.

 Doch etwas in mir wollte ihre Geschichte am liebsten ruhen lassen. Ich hatte ihr versprochen, ihren Eltern den Brief zu überreichen oder eben das, was ich noch davon behalten hatte, doch was würde es für einen Unterschied machen? Es war Wochen her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Inzwischen war sie bestimmt schon weitergegangen, hatte auch ohne meine Hilfe mit all dem abschließen können. Vermutlich war es besser, wenn ich die Wunden ihrer Eltern nicht erneut aufriss, indem ich in ihrem Leben herum schnüffelte. Es ging mich nichts an.

Nachdenklich kaute ich auf meinem Daumennagel herum. Meine Augen wanderten über die Zeitschriften vor mir, über die Zimmerpflanzen und über die Wanduhr. Ich ließ mich tiefer in den Sessel rutschen und zog die Knie an. Dann legte ich den Kopf dazwischen und umschlang mit den Armen meine Beine.

Ich spielte die Erinnerungen des heutigen Tages in meinem Kopf ab. Max, das Museum, unsere Flucht-

Ich hatte gar nicht daran gedacht unser kleines Abenteuer in den Nachrichten zu verfolgen. Zu gerne hätte ich gewusst, ob die Polizei Max und seine Freunde geschnappt hatten. So wie die sich heute angestellt hatten konnte ich mir das gut vorstellen. 

Dann wanderten meine Gedanken zu dem Kuss. Es hatte sich so natürlich angefühlt, so ungezwungen, dass ich bis jetzt noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte. Erst das Schwert im Koffer hatte mich darauf gebracht. 

Es war ein Fehler gewesen. Nicht weil Lucas vielleicht doch eine Freundin hatte, nicht weil Owena uns es bestimmt verboten hätte, hätte sie auch nur in Erwägung gezogen, dass so etwas passieren könnte. Nein, es war falsch, weil ich Lucas gegenüber nichts empfand. Die heiße Wut, die ich anfangs verspürt hatte, war zwar fast gänzlich verschwunden, doch das hieß noch lange nicht, dass ich Lucas auf einmal gerne hatte. Der Kuss war ein Funken Normalität, etwas, an dem ich mich nach allem festhalten konnte, um nicht vollkommen durchzudrehen. Doch mehr war es auch nicht.

Es machte keinen Unterschied. Nach diesem Auftrag würden sich unsere Wege ohnehin ein für alle Mal trennen. Die letzten Tage hatten wir viel erreicht, um diesem Ziel ein wenig näher zu kommen. Doch jetzt, wo wir das Schwert hatten, begann der eigentliche Teil unserer Aufgabe.

Wir mussten Navarro finden. Ich hatte nicht einmal den Funken einer Idee, wie wir das anstellen sollten. Navarro konnte hier in der Nähe sein, er konnte aber auch irgendwo auf der anderen Seite der Welt auf einer Privatinsel am Strand liegen. Darüber hatte ich mir schon häufiger den Kopf zerbrochen, doch immer hatte ich mich damit zufrieden geben können, mich erst einmal um das Schwert zu kümmern. Jetzt, wo es in einem grünen Koffer verpackt unter unserem Bett lag, war das vorbei.

Plötzlich kam mir ein Gedanke. Wenn wir keine Chance hatten Navarro zu finden, vielleicht konnten wir ihn ja dazu bringen zu uns zu kommen. Es war vielleicht sogar unsere einzige Möglichkeit, an ihn heranzukommen und vielleicht auch genau der Grund, warum gerade Lucas und ich für diese Aufgabe geschickt worden waren. Ich überlegte. Für Lucas würde Navarro sich nicht interessieren. Er hatte ihn ja noch nicht einmal gekannt. Aber wenn Navarro erfuhr, dass ich noch lebte, dass ich wie er aus Etenia entkommen war, vielleicht würde er dann kommen. Er hatte schon einmal versucht, mich auf seine Seite zu ziehen, mich für sein Ziel zu gewinnen, was auch immer es war. So ganz hatte ich es selbst nicht verstanden.

Ich dachte eine Weile nach. Der Vorschlag gestern war eigentlich nicht ernst gemeint gewesen. Warum sollte ich mich auch freiwillig damit quälen, meine eigene Familie trauern zu sehen? Doch je länger ich darüber nachdachte, desto besser schien diese Idee zu werden. Navarro hatte gemordet, ja. Er und seine Leute hatten Leben zerstört und Kindern ihre Eltern genommen. So grausam, wie es für manche erscheinen konnte, er hatte seine Opfer nicht wahllos gewählt. Irgendwie, in seiner verqueren Welt, hatte er damit Gutes tun wollen. Ja, er hatte auch mich fast getötet, aber am Ende war es Lucas gewesen, der auf den Abzug gedrückt hatte.

Vielleicht war Navarro mein Tod ja bedeutend genug, dass er oder einer seiner Leute bei meiner Trauerfeier auftauchen würden. So unwahrscheinlich wie dieser Gedanke war, ich klammerte mich daran fest, während über die Treppe zurück auf unser Zimmer lief.

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt